Vor einem Jahr wurde in Frankfurt die neu erbaute Altstadt eröffnet. Die Kritik an der Rekonstruktion historischer Gebäude war groß. Heute sieht man dort eine lebendige Mischung von Besuchern, die staunen, innehalten, vergleichen.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. September 2019

Disneyland, Geschichtsvergessenheit, Touristenkarussell: An schmähenden Schlagworten fehlte es nicht, als die Stadt Frankfurt beschloss, einen Teil der früheren Altstadt wieder aufzubauen. Vor einem Jahr war dann das fertig, was der auf Denkmalschutz spezialisierte Architekturkritiker Jürgen Tietz noch im Baustadium als „Irrtum" und „weinerliche Mischung aus Verlust und Verdrängung" abgekanzelt hatte.

Allen harschen Experten-Verurteilungen zum Trotz wurde zur Eröffnung der „neuen" Altstadt Ende September 2018 drei Tage lang unter großem Publikumsandrang gefeiert. Sechs .Jahre lang hatten die Bauarbeiter auf engstem Raum gewuselt, darunter waren viele traditionelle Handwerker. Auf das Ergebnis sind sie mehr als stolz.

Zwischen Römerberg mit dem Rathaus und dem mächtigen Dom stehen nun drei Dutzend nagelneue Häuser. Auch wenn sie, nach einem Jahr, immer noch geleckt und geschleckt aussehen, verdienen sie für die meisten Besucher das Prädikat „alt". Kein Wunder: Denn gut zur Hälfte haben sie Fassadengesichter ganz wie früher, was alte Postkarten belegen. Zur anderen Hälfte nehmen sie mit ihren Umrissen und Steildächern die ursprüngliche Formensprache auf, verbunden mit neuen Elementen.

Wer durch die autofreien Gassen auf altem Grundriss schlendert, der geht in gebauten Bildern der Vergangenheit spazieren. In der einstmals viel größeren Altstadt mit ihren 1200 Häusern aus Renaissance und Mittelalter war nach dem zweiten Weltkrieg kein Stein, kein Holzbalken stehen geblieben. Im Domeingang, vor einem großen Foto dieses Trümmerfelds, zeigen sich Besucher erschüttert: ,,Unglaublich",,lautet der häufigste Kommentar.

Unter vielen Architekten und im Feuilleton führte der Wiederaufbau zu einem Aufschrei. ,,Rekonstruktion", das ist ein weitgehendes Tabu. Rückwarts gewandt, spießig, so lautete die Kritik. Renommierte Architekten und Stadtplaner wie Thomas Sieverts urteilten: ,,Stinklangweilig", ,,Kulisse", ,,gespielte Vielfalt von Formen, von Materialien und Farben, die mit den Gebäuden nichts mehr zu tun haben."

Viele Bürger der von der Nachkriegsmoderne durchgeschüttelten Stadt denken und urteilen ganz anders. Den Frankfurtern war vor allem das 1974 fertig gestellte Technische Rathaus ein Dorn im Auge, dessen drei Türme im Stil des Brutalismus schnell als „Elefantenfüße" geschmäht wurden. Als der mächtige Bau schon nach drei Jahrzehnten marode wurde, sahen das viele als Chance. Dem Abriss folgte eine heftige Debatte zwischen, grob gesagt, Modernisten und Traditionalisten. Letztere konnten ihr favorisiertes Projekt - eine Art Großmodell der Erinnerung an den Kern der Stadt - schließlich durchsetzen.

Der Stuttgarter Architekturprofessor Stephan Trüby bekräftigte in diesem Sommer noch einmal seine Fundamentalkritik: Das alles sei -die „Architektur der neuen Rechten". Bereits im vergangenen Jahr hatte er das Projekt scharf attackiert: ,,Das Frankfurter Heile-Geschichte-Gebaue soll einer scheinbar bruchlosen Nationalgeschichte zuarbeiten."

Ein Jahr nach der Eröffnung sieht man in der neuen Altstadt eine lebendige Mischung aus Besuchergruppen und Einzelspaziergängern, auch viele Einheimische. ,,Schau mal, hier war vorher nie ein Mensch", hört man, und: ,,Toll, wie die das hingekriegt haben". Natürlich fehlen auch nicht die Touristen, vorwiegend aus Fernost. Von reiner Andenkenseligkeit kann aber keine Rede sein. Stattdessen Sieht man vielerorts nach oben gerichtete Köpfe, Staunen, Innehalten, Vergleichen, Sich-Zurückwenden. Die Inhaber der kleinen Geschäfte - die neben einem• gehobenen Mix von Kaschmir bis Luxusporzellan auch Normalbedürfnisse erfüllen, inklusive Reformhaus und Apotheke sind in der großen Mehrzahl mit dem Gang der Dinge zufrieden. Das ergab eine aktuelle Umfrage der F.A.Z.
Warum sind alte Stadtformen für Bewohner und Besucher so attraktiv? Der Frankfurter Architekt und Direktor des Instituts für Stadtbaukunst, Christoph Mäckler, hat eine Hauptformel parat: Schöne Stadträume und deren „Wände" mit vielfältigen Fassaden vermittelten ,,Geborgenheit". Bei Besuchern dominiert offenkundig die Lust am Entdecken von Details, am Deuten der Schmuckelemente, am optischen Abtasten der Vor- und Rücksprünge, am Genießen von variationsreichen Einzelformen. Den Materialien wie Stein, Putz, Holz .sind oft die Spuren der Handbearbeitung noch anzusehen. ,,So eine Oberfläche möchte man anfassen", schwärmt Mäckler, der als Vorsitzender des Gestaltungsbeirats viel Anteil am Aussehen der Altstadt hat. Der reich verzierte Prunkbau „Goldene Waage" ist dabei der Publikumsstar. Gleich daneben zeigt das neue Stadthaus im offenen Untergrund die karolingische Urgeschichte der Stadt. Und am 24. September wurde das Museum des Lokalhelden Struwwelpeter für die Öffentlichkeit eröffnet.

Inzwischen haben auch einstige Gegner wie der heutige Oberbürgermeister Peter Feldmann (SPD) ihren Frieden mit der neuen Altstadt gemacht. Anfangs hatte er das von seiner Amtsvorgängerin Petra Roth (CDU) auf den Weg gebrachte Projekt als unzeitgemäß abgelehnt. Bei der Eröffnungsfeier in der Paulskirche dann die gleichsam offizielle Wendung: „Wir geben der Stadt ein Stück Herz und Seele zurück." Auch anderswo klingt es . inzwischen versöhnlicher, die Wochenzeitung „Die Zeit" lobt „überall wunderbare handwerkliche Details". Keine schlechte Bilanz also nach einem Jahr.

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