VIER. FRAGEN AN: Tobias Nöfer, Architekten- und Ingenieur-Verein zu Berlin - Über lebenswerte Städte, fatale Verkehrspolitik und die Rolle der Architektur.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.01.2020 - Die Fragen stellte Michael Psotta.

Welche Stellschrauben müssen Planer heute bewegen, damit Städte auch in 50 Jahren lebenswert sind?
Der wichtigste Punkt ist sicher die Abkehr von der Idee der autogerechten Stadt, die aus dem letzten Jahrhundert stammt. Denn das Auto hat unsere Städte weniger lebenswert gemacht. Im Gegensatz zur Stadt vor 50 Jahren ist der Aufenthalt auf der Straße für alle heute lebensgefährlich und das Spielen der Kinder völlig ausgeschlossen. Nur eine Stadt, in der der öffentliche Raum für alle gefahrlos nutzbar ist, ist lebenswert. Aber kommen wir mal zur Architektur und dem öffentlichen Raum:
Wenn Architekten und Planer die Schönheit zum wichtigsten Kriterium beim Bauen machen würden, brauchten die Politiker keine Partizipation mehr. Ebenso wie wir keine Gendersprache mehr brauchten, wenn Gleichberechtigung gelebt würde. Die Bürger sind oft zu Recht verzweifelt, dass uns Fachleuten offenbar keine schöne und damit lebenswerte Stadt mehr gelingen will. Wenn die Architektur der Stadt nur noch eine Ansammlung von Egoismen ist, ist Widerstand angebracht. Schönheit im Städtebau ist die Kultivierung der Gemeinsamkeit.

 

Gibt es kurzfristig sinnvolle stadtplanerische Maßnahmen, die der langfristigen Entwicklung schaden können?
Wir können es einfach nicht lassen, Straßen immer breiter und geradliniger zu bauen, damit der Verkehr besser fließt: Im Zentrum Berlins wird jetzt die schreckliche Mühlendammbrücke aus den sechziger Jahren neu gebaut - noch breiter als zuvor im historischen Altstadtkern. Und das sogar unter einer grünen Senatorin, die eigentlich weiß, dass bei immer breiteren Straßen am Ende keine Stadt mehr da ist. Die Breite der Brücke ergibt sich aus der Addition der Einzelinteressen, und die werden immer mehr. Die fortwährende Addition der Fahrspuren ist der Beleg für das Phänomen, dass wir nicht mehr in der Lage sind, miteinander zu leben, sondern stattdessen nebeneinander existieren. Nur die wenigsten Planer und Ämter sind in der Lage, den intensiv genutzten öffentlichen Raum angemessen zu gestalten. Ein schönes Beispiel ist die Bergmannstraße in Kreuzberg, an der seit Jahren gebastelt wird: Dauerndes Aufbauen, Umbauen und Abreißen flippiger, aber disfunktionaler Stadtmöbel, Autobahn-Poller oder Industrie-Fahrradbügel hat dort skurrile Züge angenommen. Das Gemeinsame aller Einzelmaßnahmen ist die Hilflosigkeit, weshalb das teure Basteln nicht aufhören will. Die Stadt muss man nicht dauernd neu erfinden - warum nicht mit den klassischen Elementen des Berliner Bürgersteigs wie Granitplatten, Mosaikpflaster und gusseisernen Pollern arbeiten? Das hippste Leben ist in den klassischen Gründerzeitvierteln.

Wie wichtig ist die Architektur der einzelnen Gebäude für die Qualität der Städte, etwa gegenüber der Verkehrsinfrastruktur?
Die Architektur der Stadt besteht aus allen Räumen, in denen wir uns bewegen: von der Wohnung über den Hausflur auf die Straße in den Park - da gibt es nichts, wo die Stadt aufhört oder anfängt, das ist ein räumliches Kontinuum. Deshalb ist die städtische Fassade die Innenwand des öffentlichen Raums und verantwortlich für dessen Erscheinungsbild. Sie muss dem Anspruch der Öffentlichkeit auf Dauerhaftigkeit, Nützlichkeit und Schönheit gerecht werden, drei Eigenschaften, die sich jeweils gegenseitig bedingen.

Welche Vorbilder für eine langfristig sinnvolle Stadtplanung gibt es in anderen Ländern?
In einigen Ländern der Welt ist man mit der Wiederentdeckung des Menschen als Maßstab für die Stadt weiter als bei uns. Kopenhagen beispielsweise hat eine erstaunliche Wende hinter sich, weil dort im Zentrum konsequent die gemeinsame Nutzung des öffentlichen Raumes und die Verlangsamung des Autos verfolgt wurden. Alles wird auf die Bedürfnisse der Menschen hin gestaltet, die die Räume nutzen wollen. Dort ändert sich das Straßenbild: Was Touristen für einen Babyboom halten, ist einfach nur der Umstand, dass Kinder plötzlich wieder im Straßenraum zu sehen sind. Dieser enorme Erfolg ist unter Planem mittlerweile weltweit bekannt, und wir fangen hoffentlich langsam an, davon zu lernen.

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