Bilder aus Berlins historischem Zentrum
Archäologen arbeiten auch mitten in Berlin. Zwischen Alex, Park Inn und Saturn graben sie nach den Ursprüngen der Stadt - und fördern Erstaunliches zutage.

Tagesspiegel vom 11.2.2020 - von Verena Mayer
 
Nur die trockene Erde im Inneren und einige braune Flecken weisen darauf hin, dass die Tasse mehr als 100 Jahre im Boden begraben lag. Sie stammt aus dem Speisesaal des „Grand Hôtels“, das hier, am nordöstlichen Eck des Alexanderplatzes, früher einmal stand.

Entdeckt wurden sie von Torsten Dressler und seinem Team, die hier seit September letzten Jahres, versteckt hinter bunten Bauzäunen, archäologische Grabungen durchführen. Archäologen, sind das nicht diese wilden Kerle, die in Indiana-Jones-Manier um die Welt reisen und antike Tempelruinen entdecken?

 

Der Archäologe Torsten Dressler leitet die historischen Ausgrabungen am Alexanderplatz.
Dressler trägt eine grellgelbe Schutzjacke, schwarze Arbeitshose und derbe Lederschuhe. Er leitet die Ausgrabungen am Alexanderplatz. Das europäische Immobilienunternehmen Covivio will hier ein Hochhaus bauen – „mixed use“, mit Dachterrasse und „community spaces“.

Berlins vergessene Mitte
Das historische Zentrum Berlins lag lange brach. Nur wenig ist übrig von dem mittelalterlichen Stadtkern rund um Nikolai- und Marienkirche. Auf dem Weg zur modernen Weltstadt wurden die alten Viertel immer wieder erweitert und umgestaltet. Was die Bomben des zweiten Weltkriegs verschont hatten, musste den städtebaulichen Visionen der DDR-Führung weichen.

Seit einigen Jahren wird in Berlins „vergessener Mitte“, wie es das Stadtmuseum einmal nannte, wieder kräftig gebaut. Rund um das Roten Rathaus schlängeln sich die Autos vorbei an Baucontainern und Absperrungen. Dort lagern, versteckt hinter hohen Bauzäunen, mehrere hundert Jahre Berliner Geschichte.

Prüfen, was noch da ist
Seit 1995 schreibt das Denkmalschutzgesetz vor, dass auf „archäologischen Verdachtsflächen“ vor Baubeginn geprüft werden muss, ob sich historische Funde in der Erde befinden. So auch bei der Fläche am Alex zwischen Park Inn und Saturn. In der Nähe wurden Reste von Friedhöfen, alten Kirchen und die Fundamente einer militärischen Exerzierhalle gefunden.

Das Verursacherprinzip besagt, dass der Bauherr, in diesem Fall Covivio, sich um die Ausgrabungen kümmern muss. „Der eigentliche Auftrag war, bis ins Mittelalter zu graben“, sagt Archäologe Dressler. Stattdessen ist man auf das alte „Grand Hôtel“ gestoßen, das hier Ende des 19. Jahrhunderts errichtet wurde. Zwei Mitarbeiter sind gerade dabei, den Wintergarten freizulegen, der sich einst im Innenhof des Gebäudes befand.

Dort, wo in Kürze ein 130 Meter hohe Hochhaus gebaut wird, stand früher ein mondänes Hotel. Fast vier Meter tief ist die Grube. Mit Schaufeln befreien sie die alten Ziegelsteine von Erde und Schutt. Auf einem Plan zeigt Dressler, wie das Hotel damals aussah: An der Rückseite des Innenhofs ein prunkvoller Festsaal mit Bar und Restaurant. Später kam noch eine Brauerei und ein Kino hinzu.

Das "Grând Hotel", erbaut 1894-1895, stand früher an der nord-östlichen Ecke des Alexanderplatzes.

Es waren die goldenen Zwanziger. „Wenn das noch stehen würde, die hätten hier gut Babylon Berlin drehen können“, sagt Dressler. Nach dem zweiten Weltkrieg waren von dem Hotel nur noch die Grundmauern übrig.

Von Früher ist nicht mehr viel erhalten
Erst in den 60er Jahren wurde der stark zerstörte Alexanderplatz neu bebaut. Mit dem Denkmalschutz nahm man es damals nicht so genau. Wen interessierte die Vergangenheit, stand doch die sozialistische Zukunft bevor. Die DDR-Führung baute den Platz zum zentralen Verkehrsknotenpunkt aus, auf drei Seiten von Schnellstraßen eingekesselt.

Seit 1968 querte eine 550 Meter lange Fußgängerunterführung den Platz. Im Zuge der Umgestaltung verschwanden viele der historischen Überreste, die sich noch im Boden befanden. Bevor das Hochhausprojekt von Covivio sich mit seinem 19 Meter tiefem Fundament in die Erde frisst, soll Archäologe Dressler ausgraben und dokumentieren, was noch übrig ist. Viel sei es nicht mehr, sagt er.

Bei den Ausgrabungen fand das Team altes Porzellan aus dem "Grând Hotel". Es stammt aus der Königlichen Porzellanmanufaktur.

Umso überraschter war das Team, als sie zwischen den Hotelmauern Überreste einer Kalksteinmauer aus dem 18. Jahrhundert fanden, die wohl zum Stelzenkrug gehört hat. Das Gasthaus, damals direkt am zentralen Viehmarkt gelegen, lässt sich bis ins Jahr 1571 zurückdatieren.

Die Mauerreste wird er dokumentieren, aber danach wird das meiste wohl zerstört, denn aus Landesdenkmalsicht sei es nicht erhaltenswert, wie Dressler sagt. Kleinere Fundstücke werden aufbewahrt.

In der Grube lagen auch noch alte Straßenschilder aus der Zeit des "Grând Hotels". Die Neue Königstraße heißt heute...

Neben vielen Tassen, Milchkännchen und Zuckerdosen fand das Team auch einen alten Café-Tisch und zwei historische Straßenschilder. Vom Mittelalter aber war hier nichts mehr übrig.

Der Verkehr war wichtiger als alte Mauern
Ortswechsel. Nur wenige hundert Meter südlich vom Alexanderplatz, hinter dem Roten Rathaus, liegt der Arbeitsbereich von Michael Malliaris. Der Archäologe leitet die historischen Grabungen am Molkenmarkt. Ausgerüstet mit mehreren Plänen steht er vor einer riesigen Baugrube hinter der Jüdenstraße.

Bis 1936 stand hier ein Wohnquartier mit verwinkelten Straßen und engen Hinterhöfen. Die Nazis wollten auf der Fläche ein Forum mit Verwaltungsgebäuden bauen. Der Krieg kam dazwischen, danach lag das Gelände lange Brach.

Seit 1969 zerschneidet die Grunerstraßen das historische Areal in zwei Teile. Lange Zeit galt die Devise: Der Verkehr muss fließen. Ohne Rücksicht auf die Stadtgeschichte. Das Nikolaiviertel, in den 80er Jahren nach alten Plänen rekonstruiert, wurde zwölf Meter zurückversetzt – damit Platz für den mehrspurigen Mühlendamm ist.

Das alte Stadtzentrum rund um den Molkenmarkt
Auf einem alten Foto zeigt Malliaris, wie das Viertel am Molkenmarkt früher aussah. „Das Haus hier, das wurde auch abgerissen und das da, das ist der Keller von dem Haus.“ In der Baugrube ist eine gemauerte Fläche zu erkennen, Reste des alten Fußbodens aus dem 19. Jahrhundert.

„Und da wo der Kollege draufsteht, da sind wir jetzt im Mittelalter“. Den Molkenmarkt gab es bereits in der Zeit, als die Stadt noch aus zwei Teilen bestand: Berlin im Nord-Osten, Cölln im Süd-Westen, geschützt durch eine Festungsmauer und Bastionen.

Die Archäologen legen die historischen Funde frei und dokumentieren sie.

Der Molkenmarkt, dort wo jetzt die Ausgrabungen stattfinden, liegt im historischen Zentrum von Berlin. Daher müssen vor Baubeginn auch hier die Archäologen ran. Malliaris hat schon an vielen Orten in der Stadtgeschichte von Berlin gegraben, auch beim Humboldt-Forum war er dabei.

Seit September sind er und seine 16 Mitarbeiter vom Landesdenkmalamt hier beschäftigt. Die derzeitige Ausgrabungsstätte ist weniger als ein Drittel von insgesamt 25.000 Quadratmetern, auf denen die Stadt Wohnungen, Büros und Ateliers errichten will.

[Jeden Freitag um 14 Uhr führt Michael Malliaris kostenfrei eine Stunde über die Ausgrabungsstätte am Molkenmarkt. Anmeldungen sind nicht erforderlich, aber festes Schuhwerk. Treffpunkt ist der westliche Nebeneingang des Alten Stadthauses in der Jüdenstraße.]

Im Boden ist die Geschichte archiviert
Im Moment sind die Archäologen dabei, das Areal zwischen Molkenmarkt, Jüdenstraße und dem Roten Rathaus zu untersuchen. Block A und B. Im Sommer will das Team mit Block C anfangen. Dank der milden Temperaturen seien sie bisher gut vorangekommen. Er sei nicht für den Klimawandel, aber hier mache er mal eine Ausnahme, sagt Malliaris und lacht.

Auch hier geht es vor allem darum, historisches Material zu dokumentieren. Im Sinne der Bodendenkmalpflege sei es am besten, die Überreste in der Erde zu lassen. Denn dort seien sie am besten konserviert. Doch die modernen Straßen und Gebäude mit ihren tiefen Fundamenten brauchen den Platz im Boden.

Auch wenn das meiste nicht erhalten werden kann, die Funde liefern wertvolle Erkenntnisse über die Stadtgeschichte: „Wir wissen nicht, ob der Hausbewohner damals Goethe gelesen hat“, sagt Malliaris, „aber wir wissen, dass er Import-Keramik hatte und viel Fisch gegessen hat.“ Es sei ein Archiv im Boden.

Rückwärts durch die einzelnen Schichten
Die Archäologen graben sich rückwärts durch die Geschichte. Erst mit dem Bagger, dann von Hand mit Schaufeln und Kellen. Schicht für Schicht, immer tiefer, immer älter. Nachdem das Haus und ein Brunnen aus dem 19. Jahrhundert freigelegt waren, ging es weiter ins 18. Jahrhundert.

Dann entdeckte das Team schwarze Schichten in der Erde. Spuren eines abgebrannten Fachwerkhauses. Wahrscheinlich von 1469, sagt Malliaris. Dass er das so genau datieren kann, liegt an einem Stück Holz, das die Archäologen gefunden und untersucht haben.

Dendrochronologie, Jahresringforschung, nennt sich diese Messmethode. Die Jahresringe verraten, wie alt das Holz ist. Und wenn die Rinde dran ist, weiß man sogar, zu welcher Jahreszeit der Baum geschlagen wurde, erklärt Malliaris. Ein Geschichtsbuch, mit Schichten statt mit Buchstaben. So beschreibt der Archäologe seine Arbeit. Um die Berliner daran teilhaben zu lassen, bietet er jeden Freitag Führungen über das Gelände an.

Als vor kurzem eine Bombe aus dem zweiten Weltkrieg gefunden wurde, war der Medienrummel groß. Sowas interessiere die Leute, sagt Malliaris. Es klingt fast ein wenig enttäuscht. Er sei eher ein „Fan vom Mittelalter,“ aber für alte Töpfe und Mauern könne sich eben nicht jeder begeistern. Die Frage, was ein bedeutender Fund ist, sei eben sehr subjektiv. Für die einen ist es die Bombe, für die anderen das mittelalterliche Kloster.

Spuren der Industrialisierung vor dem Roten Rathaus
Ab nächsten Monat soll die Grunerstraße, die derzeit noch rund 60 Prozent der Fläche aus Block A und B bedeckt, umgeleitet werden. Teil des Bebauungsprojekts ist es, die historische Straßenführung wieder herzustellen. Statt monströsen Schnellstraßen soll es zwischen den Wohnquartieren kreisförmige Verkehrsadern geben, so wie sie sich im Mittelalter um den Stadtkern zogen.

Auch die Grundrisse der neuen Häuser orientieren sich an den historischen Plänen. Die Rückbesinnung auf die Geschichte, das sei eher unüblich, sagt Malliaris und zeigt nach Norden, Richtung Alexanderplatz.

Auf der anderen Seite der Grunerstraße, vor dem Roten Rathaus liegt der zweite Teil der Ausgrabungsfläche. Auch hier haben die Archäologen eine große Grube ausgehoben. Verrostete Stumpen ragen aus dem Boden, wie große Pratzen aus Stahl. Die Wände sind mit kleinen Löchern durchzogen. In der Mitte eine Schalttafel auf Marmor. Es sind die Überreste eines Elektrizitätswerks, das hier 1889 gebaut wurde.

Fast 100 Jahre überdauerten diese Maschinenreste und Marmorteile in der Erde. Sie stammen aus dem ehemaligen Elektrizitätswerk.

Ein monströser Bau mit zwei hohen Schloten für die kohlebetriebenen Dampfmaschinen. Direkt neben die Wohnhäuser. Es war die Zeit der Industrialisierung, Berlin träumte davon, eine moderne Weltstadt zu werden. Diese „Industrie-Archäologie“, sagt Malliaris, das lieben die Leute. Für ihn sei dieses „junge Zeug“ eher eine „Pflichtübung“. Unter dem Fabrikbau aber haben sie Teile eines mittelalterlichen Kellers aus dem 13. Jahrhundert gefunden.

Einige Mitarbeiter sind gerade dabei, mit kleinen Schaufeln und Kellen den Boden freizulegen. „Oh, da wird gerade ein Holz geborgen“, ruft Malliaris begeistert. Es wird in Klarsichtfolie gewickelt und später dendrochronologisch untersucht. Auch dieses Holz wird ein Stück Berliner Geschichte erzählen. Es ist eine weitere Seite im Geschichtsbuch der Stadt.

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