Beim Umbau des historischen Stadtkerns erfahre die Geschichte kaum Aufmerksamkeit, sagt Stadtplaner Hans Stimmann.
Morgenpost, vom 27.09.2020 - Gastbeitrag von Hans Stimmann

Es vergeht kaum ein Tag ohne Ankündigung von Neuigkeiten der für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz zuständigen Senatorin Regine Günther. Die im Mobilitätsgesetz aus dem Jahr 2018 fixierten Ziele sind hochgesteckt, regeln aber auch Konflikte, die entstehen, wenn die Flächenanforderungen eines Verkehrsmittels mit dem eines anderen kollidieren. Für den Fall sollen die Verkehrsarten des Umweltverbundes – Fußgänger, Radfahrer und der ÖPNV – Vorrang haben. Die Umsetzung dieser gesetzlichen Vorgaben hat einen Kulturkampf über die Gestaltung zukünftiger Mobilität ausgelöst, der die Politiker und Planer beim Senat und in den Bezirken zwingt, über konkurrierende Flächenansprüche in vorhandenen Straßen zu entscheiden.

Ganz anders stellt sich die Frage beim Rückbau des in den 60er-Jahren gebauten sechsspurigen innerstädtischen Straßenzuges Leipziger Straße, Spittelmarkt, Molkenmarkt, Alexanderplatz. Platz ist genug vorhanden, denn der Straßenzug ist in seiner heutigen Dimensionierung Teil der Planung für die vom Autoverkehr frei gehaltenen Räume des Marx-Engels-Platzes, des Marx-Engels-Forums und der Freiflächen zwischen Rathaus und St. Marien.

Nach der Wende wollte der Senat bereits den Rückbau rund um den Molkenmarkt
Die Planung war, anders als bei West-Berliner Stadtautobahnprojekten, nicht in erster Linie ‚autogerecht’, sondern Teil der Hauptstadtplanung mit Staatsrat, Außenministerien, Palast der Republik und dem ZK der SED. Verkehrsmengen spielten bei der Dimensionierung des Straßenzuges keine Rolle. Fünf Jahre nach der Wiedervereinigung hat der Senat versucht, das Staatszentrum für die Stadt zurückzugewinnen. 1996 wurde dazu vom Senator für Stadtentwicklung, Umweltschutz und Technologie, Peter Strieder (SPD), im CDU-geführten Senat in einem mühsamen Prozess das 1999 beschlossene „Planwerk Innenstadt“ erarbeitet. Darin spielte der genannte Straßenzug zwischen Molkenmarkt und Spittelmarkt eine zentrale Rolle.

Für den Molkenmarkt wurde der Rückbau der Grunerstraße von 60 auf 30 Meter und eine kleinteilige Bebauungsstruktur vorgeschlagen, der Spittelmarkt sollte als Platz wieder entstehen, der Petriplatz neu entstehen und die Mühlendammbrücke sollte auf zwei Spuren zurückgebaut und ihrer Tradition entsprechend bebaut werden. Diese Form der Reurbanisierung war im Senat sehr umstritten. Insbesondere die CDU-geführte Verkehrsverwaltung beharrte auf der Beibehaltung der durchgängig zwei mal drei-spurigen Straße. Dieser Konflikt zwischen einer städtebaulichen Betrachtung des Straßenzuges und daraus abgeleiteter Straßenprofile und Brückenbauten und einer aus Verkehrsmengenbetrachtungen abgeleiteten Ausbildung der Straßen, Plätze und Brücken endete mit der Vertagung des Rückbaus am Molkenmarkt und bei der Mühlendamm- und Gertraudenbrücke mit einer Anpassung an die damals dominierende Position der CDU zum Innenstadtverkehr.

Hans Stimmann: SPD verpasst eine Chance
Die Debatte darüber fand vor über zwei Jahrzehnten statt, geändert hat sich in der Wirklichkeit nichts. Durch das historische Stadtzentrum bewegen sich wie auf einer Autobahn täglich über 70.000 Autos und die Straßenbahn existiert nur auf dem geduldigen Papier des Senats. Auch die Begründung für die Beibehaltung des Straßenprofils und der Brückengestaltung erfolgt weiterhin ohne Rücksicht auf die unterschiedlichen Situationen der Stadtgeschichte. Im Unterschied zu den 90er-Jahren werden die Argumente für die Behandlung des Straßenzuges als Verkehrsmaschine nun aber von den Grünen vorgetragen. Die andauernde Rede von der Verkehrswende bleibt ein hohles Versprechen der Verkehrssenatorin in einem von der SPD geleiteten Senat. Der Regierende Bürgermeister und SPD-Parteivorsitzende verpasst so die Gelegenheit, die verkehrspolitische Niederlage der SPD in einem von der CDU-geführten Senat von 1999 zu revidieren. Vorschläge aus dem SPD-geführten Bezirksamt liegen dazu auf dem Tisch