Die europäische „Neue Leipzig-Charta" zur Stadtentwicklung
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06.01.2021 - von Arnold Bartetzky

Die für Stadtentwicklung zuständigen Minister der Europäischen Union haben kürzlich die „Neue Leipzig-Charta" verabschiedet. Das Papier, das an die „Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt" von 2007 anknüpft, soll auf neue Herausforderungen wie den Klimawandel, die Ressourcenknappheit, den Verlust an Biodiversität sowie den verstärkten demographischen und wirtschaftlichen Wandel reagieren. Einen besonderen Akzent legt es auf die Stärkung der kommunalen Planung, der Daseinsvorsorge und der Bürgerbeteiligung. Das ist an sich eine gute Idee, da in Teilen der Europäischen Gemeinschaft nach wie vor ineffiziente Zentralismen, gepaart mit wirtschaftlichen Interessen von Großunternehmen, die lokalen Kräfte lähmen.

Das Dokument dürfte aber schon deshalb kaum eine praktische Wirkung haben, weil es vor ermüdenden Gemeinplätzen und Worthülsen des europäischen Bauverwaltungsjargons nur so strotzt. Was ist etwa mit der Aussage gewonnen, dass Europas Städte Orte der Vielfalt und Kreativität oder auch Experimentierfelder für soziale Innovationen seien? Oder auch mit der Bekundung des Wunsches, dass mehr Menschen öffentliche Verkehrsmittel nutzen sollen? Inflationär werden Zauberworte wie Energieeffizienz, Klimaneutralität und natürlich Nachhaltigkeit verwendet. Mit konkreten Forderungen an eine nachhaltige Stadtentwicklungspolitik hält sich das Papier dagegen so konsequent zurück, dass es kaum Anstoß erregen, aber eben auch kein Interesse wecken kann.

Immerhin wird für Dichte und Kompaktheit von Stadträumen, verkehrsvermeinende Nutzungsmischung und eine Reduzierung des Flächenverbrauchs plädiert. Die butterweichen Formulierungen stehen aber in keinem Verhältnis zur Dramatik der Entwicklung. In Deutschland wird dem Bundesumweltministerium zufolge Tag für Tag eine Fläche von 79 Fußballfeldern für Besiedlung und Verkehr ausgewiesen. In anderen Ländern Europas schwindet die unbebaute Fläche zum Teil noch schneller.

Die Charta. ringt sich aber noch nicht einmal zur Benennung einer Obergrenze für den Flächenfraß als Ziel durch. Kein Wort verliert das Papier über Baumaterialien.
Weder die vielen Diskussionen und Studien zu Umweltschäden durch Styropordämmung noch die Initiativen für eine Abkehr von der Dominanz der in der Herstellung extrem klimaschädlichen Materialien Beton und Stahl im Neubau, die sich inzwischen sogar die EU¬Kommission auf die Fahnen schreibt (F.A.Z. vom 19. 11. 2020), sind den Bauministern eine Erwähnung wert. Ebenso fehlen verwertbare Aussagen zur gestalterischen Qualität des Bauens. Europas Kulturminister haben in der Erklärung von Davos von 2018 in ungewöhnlicher Deutlichkeit eine ,,Trivialisierung des Bauens", ,,fehlende gestalterische Werte" und den „Verlust regionaler Identitäten" beklagt.

Ihren für Stadtentwicklung zuständigen Kollegen und Kolleginnen könnte dies ein Anstoß sein, sich ein paar Gedanken darüber zu machen, wie denn die Städte gestaltet sein sollten, damit sich die Menschen in ihnen wohl fühlen. Daran könnte sich die Frage nach der ästhetischen Nachhaltigkeit anschließen: Wie lässt sich der ökologische Irrsinn vermeiden, dass im Generationenwechsel immense Baubestände abgerissen werden, weil sie nicht mehr gefallen 'oder vermeintlich neuen Nutzungsansprüchen nicht mehr entsprechen? Leider auch in diesem Punkt: Fehlanzeige. Was das Papier ganz besonders vermissen lässt, ist denn auch die Einsicht, dass die Neubauvermeidung eines der obersten Gebote der Stadtentwicklung sein sollte. Europas Städte sind schon gebaut. Sie sind nicht nur eine kulturelle, sondern auch eine materielle und energetische Ressource, die es endlich zu schonen gilt. Ein Austausch weiter Teile des Bestandes mit ihrer gespeicherten grauen Energie durch vermeintlich energieeffizientere Bauten ist ökologisch genauso schädlich wie hektisch aus dem Boden gestampfte Neubausiedlungen. Stattdessen ist umsichtige Bestandsentwicklung angezeigt. Sogar der Bund Deutscher Architekten fordert - gleichsam gegen seine berufsständischen Wachstumsinteressen - in einem bemerkenswerten Positionspapier den weitgehenden Verzicht auf Neubau zugunsten einer „Kultur des Pflegens und Reparierens". Für die „Neue Leipzig-Charta" ist auch dies kein Thema.

Man kann sich vorstellen, wie mühsam so ein Papier angesichts von Interessengegensätzen und Blockademechanismen in der europäischen Staatengemeinschaft als Minimalkonsens ausgehandelt wird. Wenn es aber derart weit hinter Fachdiskussionen ebenso wie hinter den Erkenntnissen der Politik zurückbleibt, stellt sich schon die Frage, ob sich der Aufwand lohnt.

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung im Internet: www.faz.net