Zeuge aus dem Mittelalter: Das Bauwerk aus der Entstehungszeit der Stadt sowie ein Lagerhaus und eine Kunstschule wurden nahe des Molkenmarktes freigelegt. 
Berliner-Zeitung vom 01.02.2020 - von Maritta Tkalec

Um das Jahr 1300 errichteten die Ur-Berliner um ihr aufblühendes Gemeinwesen herum eine Mauer aus festem Stein. Es war offenkundig etwas entstanden, das zu schützen den Aufwand lohnte, Feldsteine mit Kalkmörtel bis zu einer Höhe von zwei Metern aufzumauern. Im Klosterviertel kann man noch einige Meter des Bauwerkes aus den frühen Jahren der Stadt besichtigen. Sie blieben erhalten, weil die Stadtmauer zugleich als Rückwand von Wohnhäusern diente.

Nur wenige Gehminuten die Littenstraße entlang haben Archäologen zu Füßen des großen Parkhauses an der Grunerstraße jetzt ein weiteres Stück der ersten Berliner Stadtmauer freigelegt – an der Grabungsstelle zeigt sich ein Wirrwarr aus Feldsteinen und Mauerziegeln. Die Sohle des Bauwerks fanden die Ausgräber in der Tiefe von etwa 1,50 Metern unter der heutigen Geländeoberkante. „Die Sohle müsste eigentlich tiefer liegen“, sagt Michael Malliaris, der die  gesamten Grabungen am und um den Molkenmarkt leitet.

 

Die Mauer stand auf einem Wall
Die Erklärung: Die um das Jahr 1300 angelegte Mauer war gar nicht die erste Befestigung. Etwa 50 Jahre zuvor, also um 1250, hatten die Bewohner zum Schutz gegen äußere Feinde bereits einen Wall aufgeschüttet – aus Sand und Grassoden für die bessere Haltbarkeit. Auf dem standen womöglich Holzpalisaden, dafür konnte aber kein Nachweis erbracht werden. Nach außen hin ergänzte ein Graben die Verteidigungsanlage.
Auf diese Sand-Grasanhäufung setzten dann die Söhne und Enkel der Wall-Erbauer die steinerne Mauer. „Eine tolle Sache“, nennt der Archäologe Malliaris diesen Fund, er bereichert das Wissen um die Gründerzeit Berlins und sichert Vermutungen über den Verlauf der Stadtmauer ab.
Wie frühere Funde vom Schlossplatz (also aus der Berliner Schwesterstadt Cölln) zeigen, wuchsen beide Orte parallel: Dort hatten frühere Grabungen einen Brunnen und ein Holz zutage gefördert, das von einem Baum stammte, der nach dendrologischen Untersuchungen im Jahr 1230 gefällt worden war.

An die Ausgrabungen vor dem Parkhaus an der Grunerstraße waren die Forscher mit besonderen Erwartungen gegangen, denn an der Stelle des heutigen Autoregals stand im Mittelalter eines der wichtigsten und lange Zeit das größte Gebäude Berlins: das Hohe Haus, Residenz der askanischen Landesherrn, Kanzlei  und Machtzentrum – nur wenige Meter vom Franziskanerkloster entfernt.
Die Ruine der Klosterkirche gehört zu den wenigen erhaltenen mittelalterlichen Bauten Berlins. Für den Klosterbau hatten die Askanier das nahe der Stadtmauer gelegene Gelände den Franziskanern zum Geschenk gemacht.

Was geschah vor 700 Jahren auf dem Gelände zwischen Hohem Haus und Klosterkirche, wo sich Mönche, Markgrafen, Patrizier und andere Bürger sowie Bauern aus dem Umland begegneten? Heute bedeckt überwiegend Straßenasphalt den historisch spannenden Raum.
Wenn demnächst die vielbefahrene Autotrasse Grunerstraße leicht verschwenkt direkt hinter dem Roten Rathaus Richtung Alexanderplatz verlaufen wird, kann die Wissenschaft untersuchen, was sich dort unter dem Asphalt befindet – womöglich Reste des Kapitelsaales des früheren Grauen Klosters.

Sensation von 1931: das Hohe Haus
Bei Abrissarbeiten im Jahr 1931 entdeckte man die nach einer Überbauung im 17. Jahrhundert vergessenen Reste des Hohen Hauses wieder. Ein wunderschöner gotischer Torbogen konnte geborgen und dem Märkischen Museum übergeben werden. Einen solchen Sensationsfund kann Michael Malliaris bislang nicht verkünden, aber neben den Resten der Stadtmauer wurden zwei mächtige gemauerte Häuserwände freigelegt: die eine aus dem 17., die andere aus dem 15. Jahrhundert.
Sie gehörten beide zum Königlichen Lagerhaus, das im 17. Jahrhundert gebaut wurde und die 200 Jahre ältere Mauer einbezog. Beide nennt Malliaris „qualitätvoll und schön gemauert“; sie müssen ein würdiges, großes Gebäude getragen haben, das ursprünglich womöglich Teil des markgräflichen Komplexes war. Er hofft, aus dem Aktenstudium, das der Grabung folgen muss, mehr zu erfahren.

Das dritte vor dem Parkhaus freigelegte bemerkenswerte Bauwerk ist jüngeren Datums. Es beherbergte 1878 bis 1920 die Königliche Kunstschule. Ein zuvor dort bestehendes Gebäude war zu diesem Zweck umgebaut worden.
An diesem Abschnitt enden in wenigen Tagen die archäologischen Arbeiten. Durchgeführt hat sie die archäologische Fachfirma pmp aus Brandenburg/Havel unter Leitung von Dietmar Rathert. Die Grube wird zugeschüttet, die neue Grunerstraße darüber hinweggeführt.

Hinter dem Roten Rathaus ist die Fahrbahn bereits weitgehend fertig. Dort war im Jahr 2020 das große Elektrizitätswerk freigelegt worden, das von 1889 an die Berliner Stadtmitte mit Strom versorgte. Einige der mächtigen Fundamente und Stahlträger ragen, in schwarze Folie verpackt, noch aus der ansonsten verfüllten Grube.

Michael Malliaris hofft, dass die Zeugen der Industrialisierung als „Elektropolis“ in einem Archäologischen Fenster sichtbar bleiben, wenn dort in den kommenden Jahren die Stadt einen langen Block für Wohnen, Gewerbe und vielleicht Kunst errichtet.
Gerne würde er traditionsreiche Elektrokonzerne mit Berliner Ursprung ­– Siemens oder AEG-Nachfolger – begeistern, einen solchen Ort der Erinnerung an den industriellen Aufbruch zu etablieren. Und dann müsste nur noch die Wohnungsbaugesellschaft WBM von dieser Idee elektrisiert werden.

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