Motorisierter Individualverkehr wird abgeschafft – Pendler bleiben auf überfüllten Strecken stecken
Der Tagesspiegel vom 06.03.2021- von Reinhart Bünger

Die Nachfrage nach Häusern im Umland ist teils doppelt so stark gestiegen wie in der Stadt. Was für München und Köln exemplarisch zu beobachten ist, gilt – in abgeschwächter Form – auch für Berlin : Die Zahl der Nachfragen nach Wohneigentum in einem Vierzig-Kilometer-Radius übersteigt unterdessen die Nachfragen für den innerstädtischen Bereich. Dies ergibt eine aktuelle Studie der Onlineportals Immowelt. Der Trend zur Stadtflucht hat weitreichende Folgen für Pendlerbewegungen und Mobilität. Denn Regine Günther schwebt die autofreie Innenstadt vor, die mittelfristig Wirklichkeit werden soll. Das sieht der Stadtentwicklungsplan Mobilität und Verkehr vor, den der Senat bei seiner Sitzung am Dienstag auf Vorlage der grünen Verkehrssenatorin beschlossen hat (Der Tagesspiegel berichtete). Nicht nur der ADAC ist entsetzt. Auch die Mobilitätsforscher Andreas Knie vom Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) und Hans-Liudger Dienel, der an der Technischen Universität den Studiengang „Sustainable Mobility Management“ leitet, schlagen Alarm: So lässt Berlin seine Pendler abfahren. Nach Dauerstaus stranden sie perspektivisch am Stadtrand.
Mitte des vergangenen Jahres hatten knapp 225 000 sozialversicherungspflichtig beschäftigte Brandenburger ihren Arbeitsplatz in Berlin , rund 2150 mehr als ein Jahr zuvor, wie aus der jüngsten jährlichen Erhebung der Bundesagentur für Arbeit über die Pendlerbewegungen hervorgeht. Fast 86 300 Berliner arbeiteten in Brandenburg. Die meisten Arbeitnehmer pendelten zwischen der Bundeshauptstadt und den angrenzenden Landkreisen sowie der Landeshauptstadt Potsdam. Rund 35 300 Beschäftigte kamen Mitte 2020 aus dem Kreis Oberhavel nach Berlin , so viele wie aus keinem anderen Kreis Brandenburgs. An zweiter Stelle folgte der Landkreis Barnim mit 29 700 Pendlern. Mit rund 14 800 Arbeitnehmern fahren die meisten Berliner Auspendler nach Potsdam, gefolgt vom Landkreis Dahme-Spreewald mit 13 200 Berlinern . Sie alle bewegen sich von A nach B und zurück. In der Regel sind sie nicht mit dem (Elektro-)Fahrrad unterwegs.

„Wir sehen eine Planung von Städtern für Städter, für eine Generation ohne Auto“, sagt Forscher Dienel auf Anfrage. Zwar gibt es in Berlin so wenig Autos wie in keinem andern Bundesland – nämlich 29 Autos pro 100 Einwohner. Doch aus der Perspektive des Umlands fehlt – abgesehen von einigen, teilweise weit in die Zukunft vertagten neuen Strecken – ein Schwerpunkt zu schnellen Zugverbindungen zwischen Region und City. „Es fehlen, das ist noch schlimmer, intelligente Zubringerverkehre zu den Umlandbahnhöfen. Das geht Berlin wohl nichts an. Doch die mehrfach gebrochene Reise zwischen Umland und City muss ganzheitlich betrachtet und angegangen werden“, sagt Dienel. Leider solle laut Günthers Stadtentwicklungsplan Mobilität und Verkehr Park and Ride nicht ausgebaut werden, „das würde ja das Auto fördern“.
„Statt langfristiger Mobilitätskonzepte erleben wir viel ideologisch geprägte AdHoc-Mentalität, wie etwa den spontanen Wegfall von Parkvignetten für Besucher seit dem 1. März“, schreibt ADAC-Sprecher Leon Strohmaier auf Anfrage: „Im ideologisch aufgeladenen Verkehrsplan des Senats finden diese Argumente keinen Platz.“ Derzeit gebe es nach einer aktuellen ADAC–Auswertung „nicht ansatzweise“ genügend Möglichkeiten für Pendler, das Auto am Stadtrand stehen zu lassen. „Der Verkehrssenat hat viel zu erzählen, tut aber wenig“, kritisiert auch Mobilitätsforscher Knie. Bisher habe Berlin eine sehr intensive Pro-Autopolitik gefahren: „ Jeder kann fast überall umsonst parken, selbst wenn ihm fünf Autos gehören.“ Doch mit Blick auf die planerisch ungeordneten Umlandverkehre wird auch Knie angst und bang. „Wir werden das in ein, zwei Jahren sehen, was wir bisher nie hatten: Aus dem Umland einbrechende automobilbezogene Pendlerströme. Es ist ein verkehrspolitischer Sündenfall: Es wird geplant ohne hochperformante öffentliche Verkehrsanbindung ." Knie beklagt vor allem die Ausweisung von Neubaugebieten ohne vorher die Verkehrstrassen zu planen. „Wer das macht, sät Verkehr . Wir brauchen dringend eine integrative und intensive Raumplanung.“
Berlins Stadtentwicklungssenator Sebastian Scheel (Die Linke) kann sich vorstellen, dass Teile der Günther-Verwaltung mit der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung zusammengelegt werden. „Bei größeren Entwicklungsvorhaben könnte es im Wohnungsbau Sinn machen, eine eigene Taskforce im Haus zu haben“, sagte Scheel am Donnerstag in einer von der Gesellschaft für Immobilienwirtschaftliche Forschung e. V. (gif) veranstalteten Diskussionsrunde mit Vorstand Mathias Hellriegel.

Die gemeinsame Landesplanung sei an dem wichtigen Plan von Regine Günther – abgesehen vom Vorschlag der Konzentration neuer Siedlungsflächen an bestehenden Schienenkorridoren – offensichtlich kaum beteiligt, beklagt Dienel: „Das ist schade und hat gravierende Konsequenzen: Ausdehnung der Tarifzone B bis zu den Brandenburger Park and Ride Plätzen: keine Aussage. Shared Mobility für das Umland: Fehlanzeige. Und das in einer Zeit, in der das Umland viel schneller wächst, als die Metropole und wir deshalb die enge Zusammenarbeit in der Entwicklung von Verkehrsangeboten zwischen Umland in der City dringend brauchen, für die Zeit nach Covid19. Dazu gehört inzwischen auch, die vermuteten langfristigen Auswirkungen der Pandemie für die Stadt-Umland-Beziehungen verkehrlich zu übersetzen.“

Brandenburgs Infrastrukturminister Guido Beermann (CDU) verweist auf Anfrage auf Abstimmungen mit Berlin : „Mit den steigenden Pendlerzahlen und dem Ausbau des Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) und Schienennahverkehrs im Metropolraum Berlin wird ein erheblicher Ausbau der Fahrrad- und Pkw-Abstellplätze notwendig sein.“ Um diese Ziele zu erreichen, hätten die Länder Brandenburg und Berlin auf Basis eines Gutachtens eine gemeinsame Absichtserklärung unterzeichnet, nach der sie beim Ausbau von Park and Ride- und Radabstellanlagen enger zusammenarbeiten wollen. „Neben der Entwicklung eines gemeinsamen strategischen Vorgehens im Metropolraum Berlin -Brandenburg wird auch eine gemeinsame Finanzierung angestrebt. Die Umsetzung dieser Maßnahmen soll in diesem Jahr konkretisiert werden“, lässt Beermann wissen. Wie Berlin setzt auch Brandenburg bei der Bewältigung von Pendlerströmen nicht auf Pkw. Beermann will die vorliegende Mobilitätsstrategie 2030 fortschreiben. Das Werk soll nun Mitte des Jahres 2022 abgeschlossen sein. „Die Strategie wird sich auch mit unserem Ziel auseinandersetzen, den Anteil des Umweltverbunds – also ÖPNV, Rad- und Fußverkehr – am Personenverkehr bis 2030 auf sechzig Prozent anzuheben.“

Liudger Dienel hält diese Planspiele für verengt. „Die langfristigen Herausforderungen der Mobilität durch das autonome Fahren werden im Stadtentwicklungsplan Mobilität und Verkehr fast gar nicht adressiert“, sagt er zur Überlegung selbst fahrende Busse und Autos in Pendelverkehren einzusetzen. „Durch die autonome Mobilität wird der alte Gegensatz von Individualverkehr und öffentlichem Verkehr zum Teil verschwinden“, glaubt er, „da werden eingeübte, alte argumentative Grabenkampfstellungen obsolet.“ Das sieht der ADAC ähnlich wenn er darauf verweist, dass das Auto der Zukunft umweltfreundlich und klein sein kann: „Und es kann möglicherweise autonom fahren und geteilt genutzt werden. Umweltschutz und individuelle Mobilität im Schutzraum Auto stehen nicht im Widerspruch“, sagt Volker Krane, Vorstand für Verkehr beim ADAC.

Berlin und Brandenburg könnten hier deutschlandweit Vorreiter werden. Denn die aktuelle Immowelt-Analyse zeigt, dass in den Speckgürteln der vier Metropolen Berlin , Hamburg, München und Köln die Anfragen pro Objekt innerhalb der letzten fünf Jahre stärker gestiegen sind als in den Städten selbst. Die Coronakrise könnte diesen Trend nochmal verstärken. Wer nicht jeden Tag in die Stadt zum Arbeiten muss, nimmt eine längere Anfahrt aus dem Umland in Kauf. Für die Analyse wurde die Entwicklung der Nachfrage nach Häusern in 11 ausgewählten Großstädten und deren 40 Minuten entfernten Umland untersucht.
Andreas Knie, dessen zukunftszugewandte Expertise in Sachen Elektromobilität unbestritten ist, wäre froh wenn gelegentlich in die Vergangenheit geschaut wird. „So wie heute hätte man es früher nie gemacht – man hätte erst eine U- Bahn-Station gebaut und dann die Flächen verkauft. Das war zum Beispiel in Frohnau und am Theodor-Heuss-Platz so und so müsste man es heute auch machen.“

Auch der ADAC plädiert für eine planvollere Annäherung an das Thema Verkehr . Optionen statt Restriktionen müsse die Devise sein, findet Krane: „Erst wenn die Alternativen gestärkt sind, kann darüber nachgedacht werden, wie Autoverkehr sinnvoll verringert werden kann, nicht umgekehrt.“ Ohne die Alternativen führe ein Zurückdrängen des Pkw- Verkehrs und des bezahlbaren Parkens in der Stadt nicht nur zu individuellem Mobilitätsverlust, auch die Verdrängung der Berliner :innen an den Stadtrand und ins Berliner Umland werde so verstärkt: „Das erzeugt wiederum zusätzlichen Verkehr und Umweltbelastungen.“

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