Ein riesiger Markt, eine Verkehrsverteilstation , ein Raum für Fantasien – der Alexanderplatz war schon vieles. Bloß kein gemütlicher Ort zum Verweilen
Berliner Zeitung vom 10.04.2021 von Maritta Tkalec

Den Alexanderplatz kann man nicht liebhaben. Was sollten neue Hochhäuser daran ändern? Die meisten Leute mögen es eben gemütlich. 30 Jahre lang zweimal tägliches Überqueren hinterließen nur eine Emotion: Gefühlskälte. Wer will schon verweilen auf der Steinwüste aus kaugummiverklebtem Pflaster, wo es aus allen Richtungen zieht. Kein Café, kein Restaurant, das Zuflucht böte. Ausgerechnet dieser Ort hat den Ruf, irgendwie typisch Berlin zu sein. „Alexanderplatz! Döblin! Weltstadt! Flair!“, denken Leute, die den Platz noch nie gesehen haben. Manch „Außerhalbscher“ glaubt sogar, der Alexanderplatz liege unterhalb des Fernsehturms, vor dem Roten Rathaus. Unsinn.

Nirgendwo ist die Grenze zwischen der früheren Berliner Altstadt und dem Platz vor dem Tor klarer zu erkennen als am Alexanderplatz: Die in den 1880er-Jahren auf dem Befestigungsgraben der barocken Bollwerke erbaute Berliner Stadtbahn zieht eine scharfe Trennlinie genau dort, wo schon im Mittelalter die Stadtmauer verlief: drinnen das Marienviertel mit engen Gassen und vielen Menschen – draußen alles, was drinnen nicht geduldet war.

Um das Jahr 1400 bauten da draußen, in Sichtweite des Galgens, Zuzügler ohne Bürgerrecht ihre strohgedeckten Katen und nannten die Gegend „Teufels Lustgarten“. Für die Siechen gab es das Georgenhospital. Vor dem Georgstor zeigt ein Stadtplan von 1652 überwiegend Bäumchen und Wiesen. Als 1681 Viehhandel und -mast aus Berlin verbannt wurden, etablierte sich vor dem Tor der Ochsenmarkt.

Nachdem 1701 der erste, soeben in Königsberg gekrönte Preußenkönig durch das Georgentor in Berlin eingezogen war, tat sich einmal die Chance auf, Glanz zu gewinnen. Das Tor hieß nun Königstor, die Straße zum Schloss Königsstraße: Sie hätte eine Prachtstraße werden können. Das Tor bekam sogar repräsentative Königskolonnaden. Dem Platz half das nicht. Es zog ein Wollmarkt her, und im 1748 errichteten Arbeitshaus mussten 1000 Insassen zu Erziehungszwecken spinnen, weben und in der Tretmühle schwitzen.

Wenigstens sieben stolze Namen
Um 1700 hatte eine allerhöchste Order verfügt, neue Friedhöfe vor der Stadt anzulegen. Archäologen haben in jüngster Vergangenheit entlang der Alexanderstraße Begräbnisstätten mit etwa 1000 Skeletten freigelegt. Erst im vergangenen Jahr fand man 35 Skelette – und darüber die Fundamente der Reithalle, die der Alte Fritz errichten ließ. Auf deren Grundmauern entstand 1800 eine größere – 80 Meter lang und 17 Meter breit: 150 Jahre prägte diese Halle neben dem sandigen Exerzier- und Paradeplatz die Gegend militärisch. Anfang des 20. Jahrhunderts brauchte keiner mehr eine Reit- und Exerzierhalle – umfunktioniert zum Markt erlangte sie als Kleine Alexhalle große Beliebtheit.

1805 erhielt die merkwürdige Fläche wenigstens einen stolzen Namen: Zar Alexander I. und sein Freund König Friedrich Wilhelm III. hatten ein Bündnis gegen Napoleon geschmiedet. Der Preußenkönig verlieh dem Paradeplatz den Namen Alexander. Der Russe in Berlin – seit mehr als 200 Jahren willkommen.
1848 bauten Revolutionäre eine Barrikade etwa dort, wo das Haus des Reisens steht – und wo am 4. November 1989 von einer provisorischen Tribüne herab Künstler und Politiker in ihren Reden vor fast einer Million Menschen die Demokratisierung der DDR forderten.

Die Gründerzeit nach 1871 setzte mit einer ersten großen Bau -Attacke dem ländlich-militärischen Charakter des Alex ein Ende. In dem Buch „Aufstieg Berlins zur Weltstadt“ notierte der deutsch-jüdische Schriftsteller Max Osborne 1929 mit Blick auf den Alexanderplatz, noch um 1856 habe man sich „bei allem Fleiß nicht in den Fanatismus der Arbeit, des Ehrgeizes, der Lust am Gewinn gestürzt“. Kurz darauf hätten sich „weniger glückliche Geschlechter“ diesem verschreiben müssen, weil „das beschleunigte Tempo des Daseins, der gesteigerte Wettbewerb, die höher geschraubten Ansprüche, die wirtschaftliche Lage letzte Anspannung aller Kräfte ohne Erbarmen forderte“. Da hat er den neuen Alexanderplatz fest beim Wickel: Die große Hektik brach über das Areal herein – ankommen, abfahren, drüber-hinweg-eilen, abreißen, aufbauen, wieder abreißen. Transit, Handel, Staatspräsenz – alte Funktionen des Platzes vervielfachten ihre Dimension.

In den 1880er-Jahren entstand mit dem Bahnhof die große Verteilstation Alexanderplatz. Er fungierte nun als Scharnier zwischen Innenstadt und wachsenden Außenbezirken. Fünf große Straßen gehen quasi von hier ab: Schönhauser, Prenzlauer, Greifswalder, Landsberger und Frankfurter Allee. Entlang dieser Straßen fuhren nun nicht nur Pferdefuhrwerke, sondern Straßenbahnen, später U-Bahnen, Stadt- und Fernbusse. Im Transit liegt unentrinnbar das Schicksal des Ortes.

Statt der Marktstände, zu denen im 19. Jahrhundert die Berliner montags und donnerstags zum Einkaufen geströmt waren, lockten nun Konsumtempel wie das Tietz-Kaufhaus und in DDR-Zeiten das Centrum Warenhaus, das gegenwärtig Galeria Kaufhof heißt. Ganz in alter Markttradition breiteten sich in Nicht-Corona-Zeiten auf den freien Flächen Oster-, Weihnachts- und Oktoberfestbuden aus.
Weitere Kontinuitäten zeigen sich beim genaueren Hinsehen: 1884 öffnete an der Stelle, an der einst das Wirtshaus Stelzenkrug stand, das protzige – und bald scheiternde – Grand-Hôtel Alexanderplatz. Ganz in der Nähe erhebt sich seit 1970 das Hochhaus des Hotels Stadt Berlin , heute Park Inn. Das riesige rote Polizeipräsidium (Rote Burg) verdrängte 1890 das alte Arbeitshaus; heute fläzt an dieser Stelle das rosafarbene Grauen namens Alexa. Das Haus des Lehrers ersetzte das Lehrervereinshaus von 1908. Eigentlich immer Gleiches, nur anders.

Die Umbrüche der Jahrhundertwende von 1900 beschreibt Max Osborne fasziniert: „Es heißt umlernen. Die veränderte Zeit stellt souverän neue Gesetze auf.“ Das Abreißen und Neubauen am Alex der 1920er-Jahre feiert er als Ergebnis eines Denkens im großen Maßstab: „Hier ist wahrhaft moderne Städtekunst als künstlerisch-praktische Macht am Werke.“ Er begrüßt dies als den „Beginn eines neuen Berliner Stadtwerdens“.
Zugleich legen Legenden nahe, der Alexanderplatz sei in den 1920er-Jahren Tummelplatz von Spitzbuben gewesen. War er aber überhaupt nicht: Alfred Döblin lässt in seinem Weltroman „ Berlin Alexanderplatz“ zwar den durchaus besserungswilligen Frauenmörder Franz Biberkopf dort Zeitungen verkaufen. Doch ist keine Rede von Gewalt am Alex, kein Mord, keine Messerstecherei. Eine Klopperei gibt es – in der Landsberger Allee.
Ganoven fühlten sich letztlich doch wohler in den angrenzenden Gassen und Kaschemmen. Joseph Roth beschreibt die Neue Schönhauser, „aus deren Pflastersteinen, als wären es Laternenpfähle oder sonst wie der Straße zugehörende Gegenstände, Zuhälter und ihre Mädchen wachsen ...“ Zwischen Alex und Bülowplatz (heute Rosa-Luxemburg-Platz) herrschte „Muskel-Adolf“, Oberhaupt des Ringvereins Immertreu. In den Spelunken nahe des Polizeipräsidiums verscherbelten Hehler bei Einbrüchen geklauten Schmuck und Silberbesteck.

Der Alex kannte keine Toleranz
Mehr als 300.000 Menschen hasteten damals täglich über die Transitzone Alex – so viele wie in normalen Vor-Corona-Zeiten. Eine Art Menschen schätzte die Anonymität in der Nachwendezeit: Punks in Rattenbegleitung oder die „Knuddels“, 14- bis 18-jährige Mädchen und Jungen aus dem Berliner Osten, die sich freitagabends zum Baggern, Saufen und Quatschen über den Chat Knuddels.de trafen. Die Mädchen tranken Pfirsich-Litschi-Sekt „Fruchtiger Engel“, die Jungs härtere Sachen. Der Alex war ihnen eigentlich egal – war halt leicht zu erreichen. Das empfinden auch Gruppen junger Migranten als Vorteil.
In den 40 Jahren DDR kannte der Alex keine Toleranz: Er gehörte zu den am besten überwachten Plätzen der Republik. Es reichte, eine Gitarre auszupacken, und schon nahte ein Mann zum Schutze der Sicherheit. Außer es tobten gerade Pfingsttreffen der FDJ oder die Weltfestspiele der Jugend und Studenten wie 1973, als 25.600 junge Leute aus 140 Ländern zusammen mit acht Millionen feierlustigen DDRlern die Stadt unkontrollierbar fluteten und den Alex zum Woodstock des Ostens machten. Teilnehmer erinnern sich lebhaft an kurze Röcke, tolles Wetter, Testosteron bis an die Schädeldecke.
Die DDR-Führung hatte am Alex die Chance der Kriegszerstörungen genutzt, um mal wieder ein „neues Berliner Stadtwerden“ ins Werk zu setzen, nun im Geiste des Sozialismus und nach beherztem Abriss alles Störenden. Neben die Reste der klassischen Moderne – Peter Behrens Berolina- und Alexanderhaus – platzierte man Juwelen der Nachkriegs-Moderne. Die Nachwende-Politik verachtete dieses Erbe der DDR, einige Gebäude erlitten schwere Entstellungen. Heute stehen einige unter Denkmalschutz . Und die Neubauten! Ist eigentlich die Primitiv-Schachtel des Saturn-Kaufhauses übler oder das Alexa? Im Berliner Senat verteidigen sie die schändlichen Bausünden mit dem Verweis, sie dürften Investoren keine ästhetischen Vorschriften machen.

Am Alex tobt sich derzeit schon wieder aus, was man andernorts nicht wagt. Zwar werden die Downtown-Fantasien von 1993 (13 Hochhäuser, 150 Meter hoch) nicht wahr, aber auch die Entwürfe der jetzt entstehenden Hochhäuser wecken keinerlei Begeisterung. Allerdings werden die neuen Riesen die Ost-Moderne bald nur noch niedlich aussehen lassen. Alles Mögliche ist der Alexanderplatz schon gewesen, bloß eines nicht: ein Ort zum Wohnen. Doch ausgerechnet das ändert sich gerade: In die Hochhäuser könnten am Ende Tausende Leute einziehen. Aber was werden die Neu-Alexianer bloß vorfinden, wenn sie vor ihre Haustüre treten?
Auf dem Dach des vor dem Abriss bewahrten Hauses der Statistik steht programmatisch „Allesandersplatz“. Hinter der Formel steckt ein Initiative, die neben Shopping und Exklusivwohnraum etwas für den Ort Revolutionäres schaffen will: städtisches Leben mit Mietern, Kleingewerbe, sozialen Einrichtungen – ein Bruch der jahrhundertealten anti-urbanen Tradition und vielleicht auch ein Ende der jahrelangen Duldungsstarre.

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