Tagesspiegel vom 09.05.2021 von Thomas Westphal

Checkpoint-Tweet des Tages: @Peter_Ahrens:
„Ich möchte in dieser Stadt Berlin nur einen einzigen Neubau gezeigt bekommen, von dem ich sagen kann: Ah, interessante Architektur. Oder noch verwegener: Oh, das ist ja schön geworden.“ vom 29. April

Durch den Tipp eines Freundes habe ich mir einen Bericht über Singapur – Die Zukunft der Stadt – angesehen. Obwohl ich eingefleischter und bekennender Singapur-Fan bin, ist mir die Kinnlade heruntergeklappt. Im Bericht wird gezeigt, wie in Singapur Konzepte zur Stadtplanung – das umfasst das Wohnen und Arbeiten, Nachhaltigkeit beim Bauen , soziale Belange, Klimaneutralität etc. Ganzheitliches, interdisziplinäres Herangehen – umgesetzt werden. Begonnen hat hier alles in den 60er Jahren des 20sten Jahrhunderts, als ein Masterplan für eine Gartenstadt entwickelt wurde. Wer baute , musste entsprechende Grünflächen mitplanen. Ergebnis sind über 300 Parkanlagen, die als Garten angelegt wurden, die zu Parks mutierten und nun eine neue Art Regenwald bilden. Die Parks wurden und werden miteinander verbunden, teils mit aufgestelzten Wegen, über die man auf Wipfelhöhe durch die Natur gehen kann. Aber das ist noch lange nicht alles. Mittlerweile werden Häuser begrünt. Garten- oder Parkanlagen werden in Häuser integriert. Die Häuser so konzipiert, dass die Begrünung die Häuser kühlt. Der Wasserkreislauf dieser Häuser ist geschlossen. Regenwasser wird aufgefangen und für die Pflanzen gespeichert.

Da wird ein Stück künstlicher Regenwald in einem Gebäude am Flughafen angepflanzt, mit einer Shoppingwelt kombiniert und mit Wasserfällen wahrlich zum Leben erweckt.
Das hat nichts mehr mit einem langweiligen Zweckbau wie bei uns zu tun. Das ist Erlebniswelt! Das ist auch mehr als einfach nur eine Attraktion, die man sich einmal oder zweimal ansieht und sie dann langweilig findet. Natur ist nie langweilig. Natur ist Veränderung, ständiger Wandel, Weiterentwicklung, Leben. Die ganze Stadt strotzt nur so vor Lebenskraft. Man muss nur offenen Auges durch die Straßen gehen. Überall findet man kleine oder große Kunstwerke. Ob Dalis Tribute to Newton oder Henry Moores liegende Frau, man findet eine Skulptur mit kleinen spielenden Katzen an einem Brückenabsatz.

Singapur als rohstoffarme Stadt hat die Wasserwirtschaft revolutioniert. Regenwasser wird in riesigen Becken gesammelt (Marina Bay) und zu Trinkwasser aufbereitet. Ebenso wie das Abwasser gesammelt und aufbereitet wird. Dem Meerwasser wird in großem Stil das Salz entzogen. Technologien, die in der Entwicklung und der Umsetzung viel Geld gekostet haben, mit denen aber schon heute Geld verdient wird. Die Idee, einen 40 Meter hohen Turm zu bauen , um vom höchsten Punkt einen Wasserfall herabstürzen lassen zu können, ist an sich schon verrückt. Diesen Turm dann zu begrünen und mit einer Art Gewächshaus zu umbauen, ist noch verrückter. Das Ganze dann Realität werden zu lassen, das kann nur in Singapur passieren. Ich fragte mich beim Ansehen dieses Berichts, weshalb wir hier in Berlin nicht einmal ansatzweise Ähnliches zustande bringen. Unsere Häuser sehen nicht nur langweilig aus, sie sind es in der Regel auch. Zudem wirken sie uniformiert: Fenster haben heute hoch und schmal zu sein. Möglichst zurückgesetzt wie Schießscharten. Aber in allen Neubauten. Und unsere Häuser sind eckig, wie mit dem Legokasten entwickelt. Unsere Shoppingcenter sind ebenso uniformiert. Welchen Unterschied macht es denn, ob ich in der Mall of Berlin , in den Gropius Passagen oder den Spandau Arkaden einkaufen gehe? Überall die gleichen Läden, die gleiche Mode, die gleichen Restaurationsbetriebe, die gleiche Hintergrundmusik.

Noch ein Thema: Der Nahverkehr. Uns fällt nichts anderes ein, als Radwege zu bauen . Dem Rad scheint die Zukunft zu gehören. Koste es, was es wolle. Ich kann aus gesundheitlichen Gründen nicht Rad fahren und steige deshalb lieber in den Bus. Mit dem stehe ich dann allmorgendlich im Stau, weil an den Brücken zum Insulaner eine Fahrspur komplett zu einem Radweg umgewidmet wurde, in der Gegenrichtung ein von Autos befahrbarer Radweg aufgezeichnet wurde. Es ergibt sich jeden Morgen ein Megastau in dem Hunderte Autos stehen und Abgase in die Luft blasen. Die Dieselschwaden der BVG-Busse noch nicht mal eingerechnet. Und wofür? Die Radwege werden kaum frequentiert. Zumal bei schlechtem Wetter oder bei Kälte. Dabei hätte man einen der zwei Bürgersteige zum Radweg machen können, denn Fußgänger gibt es hier auch kaum. Statt den ÖPNV attraktiver zu machen, wird er ausgebremst. Wirklich schlau. Und keinen Kilometer entfernt, auf dem Mariendorfer und dem Tempelhofer Damm, darf man wegen Luftreinhaltung nur noch 30 fahren. Die Abgase, die hier hoffentlich eingespart werden, blasen wir wegen des unsinnigen Radwegs im Stau in die Luft. Das erinnert mich doch sehr an Schilda. Das war da, wo man Licht in Kisten ins Rathaus schleppen musste, weil man vergessen hatte, Fenster einzubauen. Was uns generell fehlt, ist ein Masterplan wie in Singapur. Wie soll Berlin in 20, 30, 40 Jahren aussehen? Während in Singapur bspw. das MRT-Netz (das entspricht unserer U-Bahn) permanent ausgebaut wird, herrscht bei uns Stillstand. Die Kanzlerbahn war wichtiger als die Anbindung des BER. Heute, fast 20 Jahre nach Baubeginn , denken wir darüber nach, den BER anzubinden. Wir haben 20 Jahre schlicht und einfach verschenkt. Bis die Anbindung an die U7 geplant ist, werden wieder mindestens 20 Jahre vergehen, Spatenstich am 1.4. 2045, Fertigstellung vermutlich zum 50. Jubiläum der BER-Eröffnung. Und die U6 schreit seit ihrer Fertigstellung 1966 förmlich danach, nach Lichtenrade weitergeführt zu werden. Erst 2018 wurde der Bau durch SPD und Grüne verhindert. Wahrscheinlich sind Radwege doch billiger, und besonders die Alten werden es ihnen danken. Wussten Sie eigentlich, dass die Pläne, die U6 bis zur Trabrennbahn zu führen, im Dritten Reich entwickelt wurden?

Diese Beispiele zeigen eins: Die Konzeptionslosigkeit der Berliner Landesregierungen, die seit 1947 bzw. 1951 bis heute andauert. Und diese Leere existiert nicht nur in SPD-Köpfen. CDU, Linke und Grüne spüren hier ebenfalls ein Vakuum. Die Zeit im Inselstatus von 1961 bis 1989 hat man ungenutzt verstreichen lassen. Gerade zu dieser Zeit hätte man eine zukunftsfähige Stadt mit Vorbildcharakter schaffen können. Nach dem Mauerfall das gleiche traurige Bild. Das Sony Center als größte Baustelle Europas ... verglichen mit Singapurs Bankenviertel, das auf gewonnenem Land errichtet wurde, Peanuts. Und heute diskutieren wir kleingeistig über Mietendeckel, Fahrradwege, Wohnungsbau und Randbebauung des Tempelhofer Feldes. War Letzteres nicht mit dem Bürgerentscheid vom Tisch? Wenn die Randbebauung kommt, ist das der Anfang vom Ende des Feldes. Spätestens wenn sich die ersten Mieter wegen des Lärms und der Menschenmassen, die bei schönem Wetter auf das Feld strömen, zu einer Bürgerinitiative zusammenschließen, wird eine Lärmschutzzone eingerichtet werden. Die dann auch irgendwann bebaut werden kann, weil die Fläche ja überhaupt nicht genutzt wird. Außer eben als Lärmschutzzone. In der Zwischenzeit bauen wir weiter langweilige Häuser auf dem Gelände des ehemaligen TXL. Wir planen einen Campus für Kreative und solche, die sich dafür halten. Mit der Planung der Zukunft haben wir ja ohnehin so unsere Probleme. Da gab es doch mal einen Bericht über die Wilmersdorfer Straße, die sich erst Jahrzehnte später von dem planerisch begleiteten Umbau erholt hat. Auch das Sonycenter hat die Erwartungen nicht erfüllt. Belebt wird es eigentlich nur durch Touristen, die zitternd in den zugigen Durchgängen stehen. Die Berliner brauchen es nicht. Oder die Mall of Berlin . Dem hundertundersten überflüssigen Shoppingcenter für Touristen. Der Bericht über Singapur sollte zur Pflichtveranstaltung für jeden Lokalpolitiker werden. Der muss so lange geschaut werden, bis jeder Politiker sagen kann: „Ich habe verstanden!“
Ideen werden gebraucht, Visionen, ein Masterplan, kein Stückwerk. Kein Rückbau einer im Bau befindlichen Autobahn, um Radwege zu errichten, sondern wirkliche Projekte, die das Leben in Berlin lebenswerter machen. Und das nicht nur für die Clubszene der Jugend oder die radfahrende Minderheit, sondern für alle Berliner.

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