Berlins historisches Zentrum hat sich in den vergangenen 100 Jahren radikal verändert – oder anders gesagt: entleert. Doch jetzt dreht sich dich Entwicklung um, vieles ist jüngst eröffnet worden. Es zeichnet sich ab, wie das Herz der Stadt künftig aussehen wird.
Tagesspiegel vom 31.05.2021 - von Udo Badelt

Natürlich könnte man erst mal rein physikalisch an die Sache rangehen: Masse schafft Anziehungskraft. Und in Berlins Mitte ist zuletzt eine Menge neuer Masse entstanden, die größte davon heißt Humboldt Forum. Im Grunde war seit 80 Jahren nicht mehr so viel Neubaumasse im historischen Stadtzentrum vorhanden wie jetzt. Ging doch die Entwicklung bisher eher den umgekehrten Weg: den der Entleerung. Nachdem schon im Kaiserreich die dicht bebaute Stadtstruktur punktuell geopfert wurde (Durchbruch der Kaiser-Wilhelm-Straße, heute Karl- Liebknecht-Straße, Bau des Alten Stadthauses), verschwanden nach 1945 schätzungsweise 90 Prozent des Baubestands, teils durch Kriegszerstörung, vor allem aber durch großflächige Abräumung erhaltener Substanz in der DDR. Auch nach der Wende, im Grunde bis heute, fand das Areal, das einmal Berlins Altstadt gewesen war, nicht zu sich. Und doch sind dort inzwischen einige Fakten geschaffen worden. Die neue Mitte Berlins ist nicht „fertig“, aber es ist doch erkennbar, wie sie künftig aussehen wird. Ihr Gesicht schält sich heraus.

Zeit also für eine kleine Erkundung. Die natürlich am besten am Humboldt Forum beginnt – ein Kunstname, der sich auch tatsächlich im Sprachgebrauch durchzusetzen scheint. Da steht wieder ein Schloss im Herzen der Stadt, das den Barockbau von Andreas Schlüter und Johann Friedrich Eosander äußerlich auf drei Seiten reproduziert, doch niemand nennt es „Schloss“. Verglichen mit den verspielten Turmlandschaften von Chambord, Schwerin und Babelsberg, vom Fake- Schloss Neuschwanstein ganz zu schweigen, oder der selbstbewusst raumgreifenden Weite von Versailles ist das, was jetzt in Mitte entstand, aber auch tatsächlich recht ernüchternd: ein unsinnlicher, streng geometrischer Kasten, gegliedert vor allem durch Fassadenschmuck und den massiven Kuppelaufbau an der Westseite.

Und doch ist das nur die halbe Wahrheit. An sonnigen Tagen leuchtet der Sandstein in hellen, warmen, mediterranen Farbtönen. Nur Bepflanzung fehlt; Bäume, Büsche, Hecken würden dem Ganzen eine gewisse Gelassenheit, Lebendigkeit, Natürlichkeit schenken. Doch was soll die Kritik? Der 670 Millionen Euro teure Bau ist ja noch sehr jung, er wurde erst im Dezember 2020 eröffnet, ohne Publikum natürlich. Man könnte ihm viel schlimmere Sachen vorwerfen. Dass er rückwärtsgewandt, ja reaktionär sei, zum Beispiel. Dass er keine Visionen aufzeigt, nichts darüber erzählt, wie wir in Zukunft leben wollen. Dass er dafür den Palast der Republik verdrängt hat, der wiederum in den 70er Jahren an Stelle des ohne Not abgerissenen, jahrhundertealten Schlosses errichtet worden war.

Andererseits: Schaut man sich die einzige moderne Fassade des Humboldt Forums zur Spree an, beschleichen einen doch starke Zweifel, ob zeitgenössische Architektur wirklich in der Lage gewesen wäre, dieses Raumvolumen überzeugender zu füllen als die barocke Kopie. Böse Zungen fragen: Wie kann es sein, dass dieses Gebäude eröffnet wurde, wenn die Ostseite noch im Rohbau ist? Ebenfalls umstritten: Hinter diesen durch und durch europäischen Fassaden werden auch Exponate des Ethnologischen Museums und des Museums für Asiatische Kunst der Staatlichen Museen gezeigt, also teils koloniale Kunst, die unter fragwürdigen Umständen nach Deutschland gelangt ist. Darüber thront zu allem Überfluss ein großes goldenes Kreuz mit einem ziemlich irritierenden Spruch, der nicht biblisch ist, sondern von König Friedrich Wilhelm IV. im 19. Jahrhundert verfasst wurde. Es geht darum, dass alle Völker der Erde im Namen Jesu die Knie beugen sollen. Zum Glück gibt es keinen Standort, von dem aus man ihn komplett lesen kann.

Wahrscheinlich muss man solche Widersprüche zwischen Form und Inhalt aushalten, sie können ja auch produktiv werden. Das Humboldt Forum dürfte in den kommenden Jahren und Jahrzehnten seine Rolle finden, in sie hineinwachsen. Die Situation in Mitte verändert seine Erbauung auf jeden Fall. Und es ist nicht der einzige Newcomer. Zu den vielen Seltsamkeiten der Corona-Pandemie gehört auch: Ausgerechnet während des Lockdowns fanden mehrere langjährige Großbaustellen in Berlin in zeitlicher Nähe ihren Abschluss. Eröffnet wurde still, leise und digital, ohne dass die Öffentlichkeit viel Notiz davon nehmen konnte. Dazu zählen der BER, natürlich, aber auch Humboldt Forum, die Verlängerung der U-Bahnlinie 5, die Sanierung der Staatsbibliothek Unter den Linden oder der Neuen Nationalgalerie. Wir wachen jetzt langsam aus der Pandemie auf und finden eine neue Mitte vor. In der, wie bei Himmelskörpern, künftig große und kleinen Bausteine aufeinander einwirken, Attraktion entwickeln (was ja nichts anderes heißt als „Anziehungskraft“) und Fußgängerströme verändern.

Im Fall des Humboldt Forums werden Besucher künftig wohl vor allem von der Lustgartenseite herkommen, vom U- Bahn-Ausgang. Posse am Rande: Im Zuge des Baus der U5 ist ein schwarzer Kubus entstanden, der den Fahrstuhlschacht beherbergt und jetzt wie ein Pickel auf der Nase des Forums prangt. Künftig wird es nur unter Verrenkungen möglich sein, das Gebäude von der Schlossbrücke aus – historisch eine berühmte Perspektive – zu fotografieren, ohne diesen störenden Würfel mit ins Bild zu bekommen. Tunneldenken der Ingenieure oder Abwesenheit von Denken überhaupt?

An der Spreeseite lümmeln Menschen am Ufer, lesen, unterhalten sich, trinken Coffee to go. Eine kleine Idylle, hier wurde ein Stück Stadt wiedergewonnen – und doch zugleich eine große Chance vertan. Denn Franco Stella, der italienische Architekt des Forums, hat zwar mit der großen Nord-Süd-Passage, dem interessantesten Aspekt seines Entwurfs, eine völlig neue Durchwegung des Areals ermöglicht. Doch an der Spreeseite, wo bis zum Abbruch des Schlosses noch die unschätzbar wertvollen Bauteile aus der Renaissance erhalten waren, hat er eine uninspirierte, austauschbare Lochfassade geschaffen, die fassungslos macht. Ja, unmöglich hätte man die Renaissance-Phase rekonstruieren können. Aber angesichts dieser Verzichtserklärung, denn nichts anderes ist Stellas Fassade, wäre es wohl besser gewesen, den Palast der Republik zumindest an der Uferseite stehen zu lassen. Das hätte dem Gebäude zumindest ein Stück historische Verankerung geschenkt. Jetzt schenkt eine einzige, sehr einsame Weide der Flussseite etwas Farbe. Man kann ihr nur wünschen, dass sie nicht eingeht.
Gegenüber, auf dem Marx- Engels-Forum , wuchert deutlich mehr Vegetation. Was in Zeiten des Klimawandels und von Hitzestau in den Städten natürlich immer eine gute Sache ist. Allerdings begraben die Wurzeln der Bäume an dieser Stelle die Altstadt, genauer: das frühere Heilige-Geist-Viertel, unter sich. Urbanität wird auf der riesigen Freifläche zwischen Humboldt Forum und Fernsehturm wohl auch so schnell nicht zurückkehren. Bei einer von der Senatsverwaltung veranstalteten Debatte mit Bürgerbeteiligung haben sich im Wesentlichen die Anwohner und Anwohnerinnen durchgesetzt. Ergebnis: Leitlinien, denen zufolge der von der DDR hinterlassene Zustand der Leere weitgehend erhalten bleiben soll.

Anders sieht es im Rücken des Roten Rathauses aus, wo die monströse Grunerstraße verengt, der Molkenmarkt – ursprünglich eine Verzweigung der von Cölln kommenden Straße – und das angrenzende Viertel um den Jüdenhof neu entstehen. So kehrt in diesem Teilbereich der früheren Altstadt ein Stück städtisches Leben zurück. Das wird ausstrahlen, auch auf das jetzt noch leere Areal zwischen Rathaus und Marienkirche.

Sprung auf die Westseite des Humboldt Forums, die mit Kuppel und Fahrstuhlschacht. Noch ist dieses Areal nicht für Flanerie geeignet, denn – wir sind schließlich in Berlin – hier ist im Mai 2020 eine zusätzliche Baustelle entstanden, die des Freiheits- und Einheitsdenkmals. Als begehbare Wippe wird es auf dem noch vorhandenen Sockel des trotz guten Erhaltungszustands 1950 abgerissenen Kaiser-Wilhelm-Denkmals von Reinhold Begas errichtet. Grundsätzlich wird diese Gegend aber von einem anderen Architekten dominiert. Dies ist Schinkel-Country, eine Achse mit Bauten des preußischen Visionärs zieht sich vom Alten Museum über die Schlossbrücke, den nach ihm benannten Schinkelplatz und der Bauakademie – die natürlich nicht mehr existiert, aber ihrer Wiedererrichtung harrt – zur Friedrichswerderschen Kirche. Der zügige Abriss des DDR-Außenministeriumsriegels nach der Wende hinterließ hier eine jahrzehntelange Brache, die sich jetzt nach und nach gefüllt hat. Vor allem Mit einer trotz ihrer Exklusivität und ihrem Premiumanspruch erstaunlich einfalls- und schmucklosen Wohnbebauung entlang der Niederlagstraße. Die Gesellschaft Historisches Berlin nennt die Fassadengestaltung eine „intellektuelle Frechheit“.

Immerhin, das Humboldt Forum hat ein städtisches Gegenüber bekommen, und wer aus den engen Neubaugassen aufs Hauptportal blickt, dem wird bewusst, wie sehr sich Schlüter um 1700 an der Wirkung des Petersdoms orientiert hat. Überhaupt, die engen Gassen: Sie standen zuletzt sehr in der Kritik, vor allem rund um die Friedrichswerdersche Kirche, der die Neubauten so dicht auf den Pelz rücken, dass es zu Rissen im Mauerwerk kam. Die Kirche konnte gerettet werden, und jetzt, wo die Gassen existieren, sehen sie eigentlich ganz gut aus. Berlin , der Stadt der großzügigen Boulevards, breiten Straßenzüge und leeren Räume der Moderne, tut solche Dichte an einigen Stellen gut.

Wer jetzt weiter nach Süden geht, gelangt zum Petriplatz , der sich mit dem Neubau des House of One ebenfalls wieder ins städtische Gewebe einschreiben wird, wenn auch nicht mehr in gleicher Form wie vor dem Krieg. Im Norden liegen die Linden, die jetzt die Chance haben, aus dem jahrelangen Baustellentrauma der U5 zu erwachen und aufzublühen. Die Staatsoper ist schon länger fertig restauriert, jetzt ebenso die Staatsbibliothek mit neuem Lesesaal. Dem Zeughaus steht das noch bevor: Es wird bis 2025 geschlossen. In dieser Zeit will das hier beheimatete Deutsche Historische Museum vor allem im angeschlossenen Neubau von I. M. Pei präsent bleiben.
Im Lustgarten angekommen, ist die Runde ums Humboldt Forum beendet. Die Sonne scheint, Insekten tanzen in der erwartungsschwangeren Frühlingsluft. Menschen genießen fast pariserisch in Grüppchen das Grün. Die Pandemie scheint auf dem Rückzug, zumindest für den Sommer. Alle warten auf die Zukunft. Die Stadt tut es auch.
Die neue Vergangenheit. Tor 1 an der Südseite des Humboldt Forums, ursprünglich der Standort des Neptunbrunnens (großes Bild). Vor dem Roten Rathaus befindet sich zwar nur leerer Raum, aber der ist jetzt bequem mit der U-Bahn erschlossen (kleines Bild oben). Um die Friedrichswerdersche Kirche sind enge Gassen entstanden, eine Seltenheit in Berlin, das seine Altstadt nach dem Krieg abgerissen hat.

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