Das späte Meisterwerk Mies van der Rohes ist wieder im Erscheinungsbild von 1968 zu bewundern. Die Sanierung hat unseren Kritiker überzeugt, weil sich die Architekten mit Akribie und äußerster Konsequenz bis ins Detail für die originale Fassung einsetzten, um Mies wieder authentisch sprechen zu lassen.
Architekten: DAVID CHIPPERFIELD ARCHITECTS Tragwerksplanung: GSE Ingenieurgesellschaft
db deutsche bauzeitung vom 07.06.2021 - von Falk Jaeger

Eine ungetrübte Erfolgsmeldung gefällig? Mies van der Rohes Neue Nationalgalerie in Berlin ist saniert worden. Durch David Chipperfield. Für 140 Mio. Euro (exakt die Obergrenze der Prognosen). Klar hat es ein Jahr länger gedauert als veranschlagt, aber das lag an dem nun wirklich unvorhersehbaren Bedarf an Betonsanierung, der sich erst nach Abnahme aller Oberflächen zeigte. Doch man konnte sich ohnehin Zeit lassen, coronabedingt. Die Eröffnung soll am 21. August sein und niemand weiß, in welchem Rahmen und mit welcher Öffentlichkeit sie möglich sein wird.

Die Zahlen und Termine sind jedoch nur ein Aspekt der Erfolgsgeschichte. Wichtiger noch ist das Ergebnis, und das ist über jeden Zweifel erhaben. Schwer vorstellbar, dass man irgendein Detail hätte noch besser machen können.

DAVID CHIPPERFIELD ARCHITECTS mit Partner und Projektleiter Martin Reichert waren angetreten, als Architekten "unsichtbar zu bleiben". Mies van der Rohes Bauwerk benötige "keinen zeitgenössischen Kommentar" durch autonom gestaltete An- und Umbauten. Und sie haben es als großes Glück empfunden, gegenüber dem Bauherrn einmal nicht kompromissbereit die eigene Sache, sondern kompromisslos die eines anderen Architekten zu vertreten. Mies war das Gesetz. Das Gebäude wurde mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln in den Ursprungszustand von 1968 versetzt.

Trotz allerbesten Willens bei allen Beteiligten mussten die Denkmalschützer Zugeständnisse machen. Oberstes Credo des Denkmalschutzes ist die Erhaltung von Originalsubstanz in situ. Das ließ sich bei der Nationalgalerie aus unterschiedlichen Gründen nicht machen. Nicht- bauzeitliche Oberflächen wurden ohnehin entfernt. Auch waren viele Bauteile schadstoffbelastet. Die hölzernen Brown-Oak-Wandpaneele wurden zur Aufarbeitung und farblichen Auffrischung ausgebaut. Natursteinwandbekleidungen und Bodenplatten wurden abgenommen, weil der Untergrund saniert werden musste. Das hört sich einfach an, doch um die Platten und Paneele zerstörungsfrei aufnehmen zu können, mussten die Demontageverfahren an Einzelproben erst entwickelt werden. Die erste Bauphase endete denn auch mit dem nackten Rohbau und mehreren Materiallagern mit 35 000 Bauteilen , die, jedes einzelne inventarisiert und kartiert, ihrer Reinigung/Aufarbeitung und ihres Wiedereinbaus am exakten Ursprungsort harrten - eine logistische Mammutaufgabe.

Im Rohbauzustand offenbarten sich erhebliche Schäden an den Betonbauteilen, die eine langwierige Betonsanierung notwendig machten. Die geschädigte Betonkassettendecke im UG wurde Belastungstests unterzogen, um die Standsicherheit nachzuweisen und einen Austausch zu vermeiden.

Die bauzeitliche Haustechnik gehört eigentlich auch zu einem Denkmal. Nachkriegsbauten betreffend hat sich bei den Denkmalschützern jedoch die Auffassung durchgesetzt, dass technische Gebäudeausrüstung zu den Verschleißteilen eines Bauwerks zu rechnen ist. Bei der Nationalgalerie wurden deshalb fast alle technischen (oft schadstoffbelasteten) Einbauten entfernt. Instandgesetzt wurden zum Beispiel die Motoren und Seilzüge der Vorhanganlage in der Halle. 800 Deckenleuchten tun, auf LED-Technik umgerüstet, weiterhin ihren Dienst. Waschbecken "Modell Spreeathen" wurden nach einem im Direktorenzimmer erhaltenen gebliebenen Original rekonstruiert. Das Schalterprogramm wurde neu aufgelegt.

Herausforderung Transparenz

Beim Wiedereinbau der Teile waren reihenweise Verfahren zu entwickeln und Nachweise zu erbringen sowie Materialprüfungen durchzuführen. Bei der Abdichtung der Sockelterrassen zum Beispiel, beim Ersatz der bauzeitlichen Flachanker, bei der Reinigung von Fassadenplatten u. a. m.

Das gilt im Besonderen für die elegante Glasfassade, die einen Geburtsfehler hatte, denn Windlasten und thermische Verformungen des Stahltragwerks hatte man bei der Konstruktion nicht ausreichend berücksichtigt. 7,5 cm Wärmedehnung auf die Länge der Fassade waren damit nicht zu meistern. So blieben nach 50 Jahren nur noch drei der 3,43 x 5,60 m messenden bauzeitlichen Scheiben erhalten. Alle anderen waren im Lauf der Zeit zu Bruch gegangen und kurzerhand durch je zwei halbe Formate ersetzt worden.

Eine neue Verglasung mit Isolierglasscheiben wäre mit neuen Stahlprofilen von größerer Tiefe verbunden gewesen; die berühmte "Mies'che Ecke" hätte sich in ihren Proportionen verändert. Eine Lösung nach dem heutigen Stand der Technik mit thermisch getrennten Profilen gar hätte die Profiltiefen verdoppelt; die Ecke hätte man als Fake simulieren müssen. So blieb es bei der denkmalgerechten Minimalversion unter Beibehaltung der Originalpfosten, die wegen der 8 mm stärkeren Verbundsicherheitsscheiben (2 x 12 mm teilvorgespanntes Weißglas, verklebt mit Sentry-Glas-Folie) lediglich etwas aufgefräst werden mussten. Die korrodierten Dachanschlüsse, die die Zwängungsbrüche verursacht hatten, wurden durch neue Gleitlager- und Dichtungskonstruktionen ersetzt, die nun alle Bewegungen klaglos mitmachen.

Die VSG-Gläser kamen aus China vom einzigen Hersteller weltweit, der 3,43 m breite Tafeln liefern kann. Allein der Transport war eine logistische Herausforderung, denn die mehr als 20 m 2 großen Scheiben passten in keinen Container. Größerer Aufwand entstand auch deshalb, weil die Scheibenformate verformungsbedingt nicht exakt rechtwinklig sind. Die Toleranzen konnten nur durch individuellen Zuschnitt aufgefangen werden: jede Scheibe ein Modell. Das bedingt auch, dass eingelagerte Ersatzscheiben bei Bedarf eigens besäumt werden müssen.

Trotz verbesserter Werte muss bei Außentemperaturen unter 4° C Kondenswasser nach wie vor in Kauf genommen werden. Dem wird mit Ablaufrinnen und einem Warmluftschleier begegnet. Für das (schon immer problematische) Raumklima in der Halle bedeutet das, dass am Rand ein 2 m breiter Raumstreifen abweichende Klimawerte aufweist und dass in Wintermonaten nur Ausstellungen mit weniger kontrollierten Konditionen stattfinden können. Die in früheren Jahren wegen Korrosion schon außer Betrieb genommene Fußbodenheizung wurde erneuert und um eine Kühlfunktion ergänzt.

Befreiungsschlag im UG

Klimatechnik, Brandschutzvorkehrungen, Sicherheitstechnik etc. mussten im ganzen Haus unter extrem schweren Bedingungen mühsam implantiert werden, denn Mies'Architektur besteht fast nur aus Haut und Knochen. Wenig Fleisch also, um darin Installationen unterzubringen.

War die Bespielung der Halle im oberen Geschoss schon immer eine Herausforderung für die Kuratoren, so entsprechen die 3 000 m 2 Ausstellungsfläche im UG internationalen Standards. Die Räume sind in den bauzeitlichen Zuschnitt und Zustand versetzt worden, allerdings jetzt weiß verputzt. Die Raufasertapete der 60er Jahre gibt es nur noch im Flurbereich. Der Teppichboden wurde nach einem gefundenen Rest als Muster neu gewebt. Ebenfalls neu ist die brandschutztechnisch modifizierte abgehängte Moduldecke, nun mit bündig integrierten Stromschienen.

Um auch die Raumfolgen und den Rundgang der Bauzeit zurückzugewinnen, bedurfte es dann doch eines Befreiungsschlags. Denn rings um das untere Foyer waren unverzichtbare Nutzungen wie Garderobe und Buchladen hinzugekommen. Diese wurden nun in die früheren Depoträume verlagert. Das Museumscafé und die Toiletten sind wieder an ihrem ursprünglichen Ort. Ehemalige Technikräume wurden für dringend benötigte Räume zur Ausstellungsvorbereitung umgewidmet.

Für die verdrängten Funktionen entstand unterirdisch, unter der Podiumsterrasse, der einzige neu gebaute Teil des Projekts, der nun Platz für Technikräume und für das Gemälde- und Skulpturendepot bietet.

So kommt es, dass der Umbauplan nur ganz wenig rote Linien zeigt: im oberen Geschoss einen bislang nicht vorhandenen Personenaufzug anstelle eines Putzraums, im UG ebendiesen Aufzug und die außerhalb des bisherigen Bauumfangs liegenden neuen Flächen unter der Terrasse.

Unnötig zu erwähnen, dass man auch den wegen Wurzelschäden lange gesperrten Skulpturengarten vor der Schauraumfassade einschließlich der Bepflanzung aufs Feinste rekonstruierte. Er wird nun zugänglich sein - wenn nicht gerade Extremwetter herrscht, denn einen Windfang hatte Mies van der Rohe nicht vorgesehen.

Mit der Neuen Nationalgalerie haben David Chipperfield und sein Team ein weiteres Mal ihre Expertise in Sachen Denkmalschutz und Sanierung unter Beweis gestellt. Sie besteht nicht nur aus viel einschlägiger Erfahrung, Kompetenz und Sachverstand, sondern zeigt sich, vielleicht noch wichtiger, bei der souveränen Moderation und Einbeziehung zahlreicher Beteiligter, Akteure und Entscheidungsträger in den Projektprozess. Hilfreich ist dabei die Autorität, die dem Team durch einschlägige Erfolge und internationale Reputation zugewachsen ist und mit der es heikle Aufgaben der Sanierung hochkarätiger Kulturdenkmale meistert.

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