Der Wettbewerb für die Mühlendammbrücke in Berlin ist entschieden. Der Neubau ist so breit wie der Vorgänger, um des verkehrspolitischen Friedens willen - ein städtebauliches Desaster.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.08.2021 von Hans Stimmann

Die Brückengeschichte Berlins beginnt mit einem Damm, der 1285 zum Betrieb einer Mühle zwischen den östlich der Spree gelegenen Siedlungen und Cölln gebaut wurde. Der Mühlendamm bot den Bewohnern der beiden Städte die Möglichkeit, die Spree trockenen Fußes zu überqueren, und regulierte über Jahrhunderte durch Stauanlagen, Schleusen und Mühlengerinne den Wasserstand der Spree. Erst nach 1889 erfolgte der Umbau des Damms zu einem regelrechten Brückensystem aus drei Brücken. An die lange Geschichte erinnert heute nur noch der Name Mühlendammbrücke. Er bezeichnet eine 1968 zu DDR-Zeiten fertiggestellte achtspurige Autobrücke, eine moderne Spannbetonkonstruktion.

Da der Mühlendamm den Schiffsverkehr blockierte, wurde der Spreekanal gebaut, der Cölln zu der heute nur noch im Stadtgrundriss erkennbaren Insel machte, an die die Namen Fischerinsel und Museumsinsel erinnern. Um die Insel samt Schloss mit den Stadterweiterungen des Friedrichswerder im Westen zu verbinden, war der Bau zahlreicher Brücken über den Spreekanal notwendig. Dazu gehörten die älteste bis heute erhaltene, als Klappbrücke entworfene Jungfernbrücke, die von K. F. Schinkel entworfene Schlossbrücke (1824), aber auch die 1895 von James Hobrecht geplante Gertraudenbrücke, die bis 1976 als Brückenverbindung den gesamten großstädtischen Verkehr einschließlich der Straßenbahn zwischen der Gertraudenstraße, dem Spittelmarkt und der Leipziger Straße bewältigt hat. Dann wurde der denkmalgeschützten Natursteingewölbe-Brücke eine sechsspurige Stahlbrücke, die Neue Gertraudenbrücke, zur Seite gestellt. Das Nebeneinander der beiden Bauwerke ergibt auch für den an architektonische Brüche gewöhnten Blick ein surrealistisches Bild.

Nach einem Beschluss des Berliner Senats auf Vorlage vom August 2021 der Senatorin für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz soll die autogerechte Brücke nicht, wie vom Senat schon 1999 beschlossen, abgerissen werden, um durch eine Modernisierung der alten Gertraudenbrücke den ausgelöschten Spittelmarkt mit architektonisch moderner Bebauung wieder entstehen zu lassen, vielmehr soll sie als sogenannter Ersatzneubau wieder entstehen. Der Grund ist nicht etwa eine Unterschutzstellung des "denkmalwürdigen" Nebeneinanders von DDR- Moderne und gründerzeitlicher Ingenieurbaukunst, sondern die banale Tatsache, dass die Planung als Ersatzneubau den Abriss und Neubau ohne zeitaufwendiges vorheriges Planfeststellungsverfahren ermöglicht - als Teil des städtebaulichen Konzeptes für eine neue Wiederentstehung des Spittelmarktes im Übergang zur Leipziger Straße.

Damit steht der Senatsbeschluss für eine autoorientierte Wende in einer über drei Jahrzehnte leidenschaftlich zwischen verkehrspolitischen und architektonischen Positionen geführten Debatte über den Umgang mit einer durch das historische Zentrum gelegten Verkehrsschneise. Diese war als Teil der Planung für die Hauptstadt der DDR entstanden, um verkehrsfreie Räume für die Inszenierung des Hauptstadtgeschehens zu ermöglichen. Teil dieses Konzeptes war der Bau einer achtspurigen Magistrale vom Alexanderplatz zur Leipziger Straße, die unter sich den Großen Jüdenhof, den Molkenmarkt, den Petriplatz und den Spittelmarkt begrub.

Natürlich war der Bruch mit den Korridorstraßen im überlieferten Stadtgrundriss nicht auf die Hauptstadt der DDR beschränkt, sondern galt für beide Teile der Stadt. Bekanntlich war gerade der Umbau der gründerzeitlichen Stadt unter dem Leitbild einer autogerechten Stadtlandschaft typisch für West- Berlin . Das Besondere an den Planungen für die Hauptstadt der DDR war nur der Umstand, dass hier nicht die Mietskasernenstadt, sondern der Geburtsort Berlins mit den ältesten Straßen, Plätzen und Brücken im Wege stand. So wurde aus der kurzen, 20 Meter breiten Grunerstraße ein 60 Meter breiter, abschnittsweise untertunnelter Straßendurchbruch, der die Otto-Braun-Straße mit dem Molkenmarkt verband. Von dort ging es wie auf einer Stadtautobahn weiter über die achtspurige Mühlendammbrücke.

War die Brücke jahrhundertelang im Bild der Stadt nicht nur eine Brücke über die Spree, sondern eine besondere Verbindung zwischen Berlin und Cölln, wurde sie nun ein anonymes Straßenstück am Übergang zur Hochhaussiedlung auf der Fischerinsel. Dem achtspurigen Mühlendamm folgte 1976 die Verlängerung und Verbreiterung auf der Trasse der Gertraudenstraße bis zum Spittelmarkt, an den seitdem nur noch die Beschilderung der U-Bahnhofes erinnert. Der autogerecht ausgebauten Gertraudenstraße fielen nicht nur der Petriplatz und die Petri-Kirche zum Opfer, sondern sie produzierte auch die eingangs erwähnte surreale Situation einer Verdoppelung der Gertraudenbrücke. Dabei ist ganz im Sinne des Leitbildes von der autogerechten Stadt die historische Brücke nun den Fußgängern und die neue dem Autoverkehr vorbehalten, und die U-Bahn-Station ist nur durch einen Tunnel unter der Stadtautobahnbrücke zu erreichen.

Obwohl, wie bereits erwähnt, schon am 18. Mai 1999 von einem CDU/SPD-Senat beschlossen wurde, diesen Zustand durch den Abriss der Autobrücke und Reaktivierung und Modernisierung der historischen Gertraudenbrücke zu beenden, ist seit über zwanzig Jahren unter unterschiedlichen politischen Konstellationen nichts passiert. Besonders bemerkenswert ist dieser Stillstand für die rot-rot-grüne Senatsregierung, die das politische Ziel einer Verkehrswende zugunsten des Umweltverbundes verfolgt.

Und nicht nur das: Seitdem die Verkehrssenatorin Regine Günther von den Grünen die Verantwortung übernommen hat, wird die gesamte seit Mitte der Sechzigerjahre als Teil der DDR-Hauptstadtplanung entstandene Schneise samt der dazugehörenden Autobrücke zur Spielwiese für Verkehrsplaner, die nun als Mobilitätstechnokraten die politische Praxis der DDR-Jahre wiederaufnehmen. Diese mobilitätsfunktionalistische Form des Planens ohne Rücksicht auf stadträumliche Qualitäten und städtebauliche Erinnerungen bricht zudem mit den unterschiedlichen Konzepten zur Transformation der Staatsmitte zur Mitte der wiedervereinigten Stadt.
Was immer die seit 1991 vorgestellten städtebaulichen Überlegungen, Wettbewerbe und Konzepte für das Zentrum der Stadt unterschied, einig war man sich darüber, die bis in die späten Fünfzigerjahre im Stadtgrundriss ablesbaren differenzierten Raumfolgen möglichst ohne allzu wörtliche Rekonstruktion wieder erlebbar zu machen. Die Konkretisierung dieser Absichten im Umgang mit der Verkehrsschneise vom Alexanderplatz zum Spittelmarkt geriet jedoch regelmäßig in einen Konflikt zwischen konservativen politischen Vorstellungen über die Bedeutung des individuellen Autoverkehrs und den Vorstellungen zur kritischen Rekonstruktion des Stadtgrundrisses. Das räumliche Zentrum dieser Auseinandersetzungen bildeten dabei die Gestaltung des Molkenmarktes und die Anzahl der Fahrspuren.

Schließlich einigte man sich im Mai 1999 auf ein städtebauliches Konzept für die gesamte Strecke, klammerte aber die Gestaltung der Kreuzung Spandauer Straße am Molkenmarkt aus. Bei der Dimensionierung für die gesamte Strecke ging man zwar vom Rückgang auf 35 000 Autos pro Tag aus, bestand aber auf den Bau von je drei Spuren für den motorisierten Verkehr und den Bau einer Straßenbahn auf separatem Gleisbett. Die damals gerade 30 Jahre alte achtspurige Mühlendammbrücke sollte erhalten und entsprechend umgenutzt werden. Zur Erinnerung an ihre historische Rolle als Ort der Begegnung war eine Bebauung mit einem Café und einem Restaurant geplant.
Die Bedeutung, die man der Wiedergewinnung städtebaulicher Qualitäten bei den Beschlüssen beimaß, mag man daran erkennen, dass 1999 beschlossen wurde, die für den Autoverkehr reservierte Neue Gertraudenbrücke abzureißen und dafür die zum Fußgängersteg herabgestufte historische Brücke für den Auto- und Straßenbahnverkehr zu reaktivieren. Das war die Position des CDU/SPD-Senats vor 22 Jahren. Passiert ist trotz des aktuellen politischen Ziels einer Verkehrswende nichts. Stattdessen wird der Frontalangriff der DDR-Planer auf das Gedächtnis der Stadt, den die Schneise vom Molken- zum Spittelmarkt einschließlich der beiden monströsen Brückenbauwerke bedeutet, von den heutigen Verkehrsplanern fortgeführt. Die Schneise bietet ihnen ausreichend Platz für die Realisierung eines klimaverträglichen Verkehrssystems, einer "Mobilität für alle" ohne Einschränkungen für einzelne Verkehrsarten, aber auf Kosten stadträumlicher Qualitäten.

Ganz in diesem Sinne wurde im Januar dieses Jahres von der Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz der Realisierungswettbewerb für einen Ersatzneubau der Mühlendammbrücke ausgelobt. Anlass waren aber nicht die unübersehbaren städtebaulichen Missstände, sondern "konstruktive Mängel und Defizite in der Tragfähigkeit", die einen "zügigen Ersatzneubau" erfordern.

Den Wettbewerbsteilnehmern wurden denn auch präzise Angaben gemacht, was die Brücke an Verkehr zu bewältigen habe, einschließlich der prognostizierten 62 800 Autos am Tag. Diese Verkehrsmenge erfordert zwei Fahrspuren pro Richtung. Wobei die prognostizierte Verkehrsmenge nicht weiter begründet, sondern wie in den Zeiten autogerechter Planung einfach gesetzt wurde. Was immer die Verkehrswende in den nächsten Jahrzehnten bewirken mag, vier Fahrbahnen für die Autos sind gesetzt. Bei dieser Annahme geht der Senat zudem, anders als der gültige Flächennutzungsplan von 2015, von der Funktion der Straße als Ost-West-Durchgangsstraße aus. Er vernachlässigt dabei, dass der Straßenzug diese Funktion wegen der Einengung der Leipziger Straße auf 24 Meter im Abschnitt von der Charlottenstraße bis zum Leipziger Platz schon jetzt nicht mehr erfüllen kann.

Der Baustadtrat vom Bezirk Mitte fragte nach der Begründung für diese vermeintlich genau errechnete Zahl und schlug, auch weil er keine Antwort bekam, vor, für den Wettbewerb je eine Spur pro Richtung für insgesamt 35 000 Autos am Tag und eine entsprechend geringere Gesamtbreite der neuen Brücke vorzusehen. Trotz dieser Vorschläge blieb es bei einer Ausschreibung für einen Ersatzneubau. Am 28. Juli tagte die Jury und erklärte die Arbeit des Ingenieurbüros Arup Deutschland und des Architektenbüros Cobe A/S aus Kopenhagen zum Sieger. Ausgewählt wurde ein elegant designtes Ingenieurbauwerk, das zwar alle Vorgaben erfüllt, aber - wie die existierende Brücke - quasi als Autobahnbrücke einen sensiblen Teil des Berliner Zentrums unter sich begräbt. Senatorin Günther beschreibt die Brücke dagegen als Beispiel "für die Berliner Mobilitätswende, mit viel Platz für die stadtverträglichen Verkehrsarten Straßenbahn, Rad- und Fußverkehr". Auch die Preisträger beschreiben ihren Entwurf als Brücke für "grüne Mobilität" und meinen damit wohl die vorgeschlagene Begrünung der Straßenbahntrasse.

Was sowohl in der Ausschreibung als auch im preisgekrönten Entwurf völlig fehlt, ist eine architektonische Reaktion auf die kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Eigenschaften dieses Ortes zwischen Berlin und Cölln. Man wird auch in Zukunft selbst als aufmerksamer Verkehrsteilnehmer weder den Anfang noch das Ende der Brücke wahrnehmen und daher auch nichts von ihrer besonderen städtebaulichen Bedeutung mit dem Blick in Richtung Kurfürstenbrücke, Humboldt Forum und Berliner Dom spüren.

Die Wettbewerbsentscheidung ist gefallen. Sie zeigt, dass die Mobilitätswende technisch machbar ist. Aber die öffentlichen Räume der Stadt sollten besonders im Zentrum nicht zuerst Orte von CO2-Belastungen, Lärm und Unfallgefahr sein, sondern vor allem Orte der Begegnung, der Ruhe und manchmal auch der Schönheit. Dazu, sich an die Abwesenheit solcher Qualitäten zu erinnern, gibt es in Berlin am 30. September eine Gelegenheit. An diesem Tag wird auf der Gertraudenbrücke der 125. Jahrestag ihrer Fertigstellung mit der Wiederaufstellung der restaurierten Bronzeskulptur ihrer Namensgeberin gefeiert - der heiligen Gertraude, der Schutzpatronin der Armen, Kranken und Handwerksburschen. Für die dann gerade neu gewählten Abgeordneten wäre diese Feier eine gute Gelegenheit, die bisherigen Ergebnisse des Umgangs mit einem gebauten Dokument der autogerechten Stadt grundlegend zu überdenken.

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