Am Nabel der Stadt
Berliner Zeitung vom 18.10.2021 von Maritta Tkalec

Erste Besucher erobern die Dachterrasse auf dem Humboldt-Forum – und sind begeistert

Toll! Großartig! Herrlich! Die Besucher, die am Sonntagvormittag auf die Dachterrasse des rekonstruierten Berliner Schlosses gekommen sind, äußern sich begeistert. Keiner meckert. Geduldig haben sie etwa eine Viertelstunde am Aufzug gewartet, bis sie kostenlos, ohne Zeitfensterticket und barrierefrei die neue Attraktion betreten durften. Familien mit Kindern, Paare, kleine Sonntagsausflugsgesellschaften sind dabei – und etliche echte Kenner von Stadt und Schloss, die nun Besitz ergreifen vom wiedererschaffenen Nabel der Stadt.

Es ist kühl und grau, aber der Blick, in welche Richtung auch immer, ist hinreißend. Alles, was schön ist an der Berliner Mitte, kommt zur Geltung: Die goldenen Kügelchen auf den Turmspitzen von Schinkels Friedrichswerderscher Kirche funkeln so wie in der anderen Richtung die Kuppel der Synagoge. Die Museumsinsel zu Füßen, die Türme vom Gendarmenmarkt und – ganz in der Ferne die weißen Kugeln der Horchstation auf dem Teufelsberg.

Ein Ehepaar aus Linz freut sich, dass ihm der Besuch bei Sohn und Enkel in Berlin spontan einen so schönen Spaziergang bescherte. Ein in Berlin lebender Niederländer hat Gäste hergeführt. Dachterrassen seien immer schön, aber dass der Palast der Republik „dafür“ abgerissen wurde, findet er schade. Eine junge Berliner Familie, die jeden Sonntagmorgen ein Stück Heimat erkundet, hat die große Stadtrundfahrt mit dem 300er-Bus am Schloss unterbrochen und genießt die schönen Blicke.

Vier ältere Herrschaften aus Hohenschönhausen stehen länger unterhalb der Kuppel mit dem goldenen Kreuz und der Umschrift, die zur Unterwerfung aller unter christliche Herrschaft mahnt: „... Dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.“ Sie haben gehört, dass sich die im Humboldt-Forum tätigen Institutionen von dieser Inschrift distanzieren. Die am Sonntag befragten Besucher sagen: „Kuppel, Kreuz, Inschrift – das ist Teil der Berliner Geschichte.“ Auch Matthias K. aus Kreuzberg findet, dass die historischen Elemente eben zu einer Rekonstruktion dazugehören: „Das ist nur konsequent.“ Er sah den Nachbau anfangs skeptisch, jetzt sagt er: „Ist okay, gefällt mir gut.“ Ihn nervt, wenn Medien abfällig von „Disneyland“ sprechen: „Hier haben tolle Handwerker Schönes geschaffen, kein Pappmascheegebilde auf die Wiese gesetzt.“

Helmut Steins, ein „alter Berliner “ aus Wilmersdorf, schaut genießerisch auf die Stadtsilhouette, freut sich an den edlen verbauten Materialien. Jahrzehntelang sei er immer wieder an der Brache, dann an der Baustelle vorbeigeschlichen, habe auch für die Rekonstruktion gespendet. „Die Kuppel gibt dem Bau Würde“, findet er; ihn stören weder Kreuz noch Umschrift, obwohl er kein Christ ist. Eine Distanzierung findet er „überflüssig“.

Ein eleganter Herr mit auffälliger Brille erzählt enthusiastisch seiner Begleiterin, wie der Bau auf ihn gewirkt habe, am Vorabend, als er von unten die Köpfe der ersten Dachterrassenbesucher herablugen sah. Es ist Franco Stella höchstselbst, der Architekt der Schlossrekonstruktion, beim Besuch seines Babys. Er ist glücklich. Die Dachterrasse nennt er eine große Publikumsattraktion, das sei „ein neuer Platz über Berlin “, und er zählt die drei Plätze auf, die er ebenerdig, mit offenen Portalen frei zugänglich geschaffen habe – Schlüterhof, Passagen und Großes Foyer: „So verschmelzen Stadt und Platz.“ Kritik am aufgesetzten Restaurant lässt er nicht gelten.

Tatsächlich ist dieses, mit seinen Kugelleuchten an den Palast der Republik erinnernd, am kühlen Sonntagvormittag gut besucht, obwohl der Kaffee nichts Besonderes, der Pudding-Blätterteigkuchen verbesserungswürdig ist.

Nach zwei Stunden Publikumsbefragung war kein Schlosskritiker gefunden. Womöglich kamen am ersten geöffneten Sonntag nur Leute, die sich über das wiedererstandene Stück altes Berlin einfach nur freuen wollten. Dann lugte auch noch die Sonne hervor, und die Domglocken begannen zu läuten. Man muss kein Hohenzollern-Fan sein, um da Gänsehaut zu bekommen.

Die Berliner Zeitung im Internet: www.berliner-zeitung.de