Warum die neue Regierung sich um Architektur und Städtebau kümmern muss - und ein Bauministerium einrichten sollte.
Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.11.2021 von Niklas Maak

Es ist nicht so, dass sich bisher niemand in der Regierung um das Bauen kümmerte. Es gibt ein Bauressort mit weit über tausend Mitarbeitern - aber dieses Bauressort wurde bisher an andere Ministerien angehängt wie ein ungeliebter Koffer, der auch noch mit auf den Dachgepäckträger geschnallt werden muss. Seit 1998 hing das Bauen beim Verkehrsminister, als sei das Bauen eine Nebensache, die irgendwo zwischen den Autobahndreiecken passierte; zuletzt wurde das Ressort an Horst Seehofers Superministerium des Inneren angedockt. Was die Anzahl seiner prägenden Auftritte und Grundsatzreden bei Gebäude-Einweihungen oder Architekturbiennalen betrifft, kann man sagen, dass er eine solide schwarze Null erreichte. Es ist bizarr, dass der Bereich, der den Alltag der Bürger am meisten berührt, nicht in einem eigenen Ministerium abgebildet wird.

Dabei sollte sich herumgesprochen haben, dass beim Bauen schon angesichts des Klimawandels Handlungsbedarf besteht. Allein die Zementproduktion ist für sieben Prozent der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich. Wäre die Zementherstellung ein Land, dann käme es in der Liste der größten Kohlenstoffdioxid-Emittenten an dritter Stelle hinter China und den Vereinigten Staaten. Nichts, nicht der Autoverkehr und nicht das Fliegen, hat solche Auswirkungen auf den Klimawandel wie Bau und Betrieb von Häusern; berücksichtigt man Abriss und Neubau mit, ist das Bauen für über die Hälfte aller schädlichen Klimagase verantwortlich - und darin sind noch nicht die Abgase eingerechnet, die Millionen Vorstadt-Pendler auf ihrer Fahrt zur Arbeit herauspusten. Eine Mobilitäts- und Energiewende kann schon deswegen ohne eine neue Baupolitik nie gelingen. Dazu kommt, dass die Politik die Gestaltung der Innenstädte und der Vororte jahrelang an private Akteure delegierte, staatliche Liegenschaften zu Schleuderpreisen verkaufte und ländliche Infrastrukturen verkommen ließ, mit dem Ergebnis, dass auf dem Land ein bedrohlicher Leerstand und in den Städten eine nie gekannte Wohnungsnot herrscht. Der Bodenspekulation, der Unsitte, Grundstücke zu kaufen, die bebaut werden könnten, sie brachliegen zu lassen und, wenn der Druck auf den Markt noch größer wird, mit Gewinn weiterzuverkaufen, wird trotzdem nur zaghaft begegnet.

Ein zukünftiges Bauressort muss sich neben alledem erst einmal mit einer Paradoxie auseinandersetzen: Wegen der Wohnungsnot muss schnell und viel, wegen des Klimawandels sollte aber so wenig wie möglich gebaut werden. Die Ampelkoalitionäre haben in ihren Sondierungen als Ziel festgelegt, dass jedes Jahr 400 000 neue Wohnungen gebaut werden sollen. Das sind, wie der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie vorrechnet, "alle vier Minuten drei Wohnungen".

Immer gleiche Schlafstädte
Das ist eine gute und eine schlechte Nachricht - denn die Ergebnisse der hektischen Bautätigkeit der letzten Jahre lassen nichts Gutes ahnen; da wurde ein Wohnkarton nach dem anderen hingemetert, um das Plansoll zu erfüllen. Aber will man hinter diesen bröselnden Dämmputzfassaden wirklich seine Abende verbringen, will man seine Kinder in diesen öden Zubringerräumen aufwachsen sehen, auf diesem kümmerlich berankten Stahlregal morgens einen Kaffee trinken? Eher nicht. Die Bauindustrie erfüllt die Forderungen der Politik nach schnell herstellbarem, billigem Wohnraum mit einer Fertigsuppen-Aufgießarchitektur. Gebaut werden die immer gleichen Schlafstädte - dabei würde die Digitalisierung, wenn man ihre Gewinne nicht kampflos an private Konzerne durchfließen ließe, auch dafür sorgen können, dass Menschen ihre Tage anders verbringen, in Räumen, in denen Arbeit und Leben anders organisiert werden, mit mehr Zeit für Freunde und Familie. Eigentlich brauchte es ein Bau -Moratorium: Bevor die Politik Hunderttausende von herkömmlichen Billigwohnungen auf die Wiese donnern lässt, müsste sich die Gesellschaft erst einmal darüber verständigen, in welchen Räumen sie leben, an welchen Orten sie sich in Zukunft angesichts veränderter Produktions- und Arbeitsbedingungen treffen will. Das ist eine Frage der Stadt- und Baukultur , von der bisher wenig die Rede war. Ein Bauministerium müsste für einen wirklichen Neuanfang nicht nur den Verordnungsdschungel lichten. Es müsste auch eine internationale Bauausstellung durchführen, in der die Bürger sehen können, wie man zusammenleben würde, wenn man nicht mehr jeden Tag um neun ins Büro oder um sieben in die Fabrik fahren muss. Eine solche Bauausstellung würde auch den zahlreichen gerade jüngeren Büros, die im verkorksten deutschen Wettbewerbssystem oft schon an den Zulassungsbedingungen scheitern, die Möglichkeit geben, ihre Ideen für einen besseren Städtebau umzusetzen.

Zementierte Lebensformen
Architektur kann neue Lebensformen ermutigen oder verunmöglichen. Drei Alleinerziehende, die ihre Kinder zusammen aufziehen möchten, sechs Achtzigjährige, die sich zu jung fürs Altersheim fühlen, finden in den hingemeterten Häusern nur selten Räume, die ihnen das Leben ermöglichen würden, das sie gern führen möchten. Wer sehr schnell 400 000 Wohnungen bauen will, muss aufpassen, dass er mit ihnen nicht eine weder sozial noch ökologisch wünschenswerte Lebensform zementiert.

Kann man Wohnraum überhaupt nur schaffen, indem man neu baut - oder kann auch der Umbau eine Lösung sein? Durch Onlinehandel, Homeoffice und Robotisierung verwandeln sich immer mehr Bauten in moderne Ruinen. Postämter, Fabriken, Shoppingmalls und Läden, aber auch Bürotürme in Städten stehen zunehmend leer. Ob das ein Desaster ist oder eine Chance, entscheidet auch die Baupolitik . In Berlin zeigt das Haus der Statistik, wie in einem leer stehenden Betonmonster Wohnungen, Kindergärten und kleine Werkstätten einziehen können. In Hamburg und Bremen unterstützt der Senat Menschen, die Ideen haben, die sie in leer stehenden Läden ausprobieren möchten. Wenn das gelingt, könnte der Abzug der allgegenwärtigen Handelsketten wie H&M aus den Fußgängerzonen auch zu neuen Formen von Stadtleben mit kleinen Bäckereien, Schneidereien und Werkstätten führen. Dafür muss aber die Politik einen Rahmen schaffen.

Wie baut man wirklich nachhaltig? In Frankreich werden alte Plattenbauten unter anderem dadurch gedämmt, dass man ihnen verglaste Wintergärten vor die Fassade stellt; in Deutschland ist das rechtlich nicht möglich. Auch hier gäbe es, von Dämmungen mit Schafwolle bis hin zu Dämmstoffen aus Pilzen, großartige Alternativen, doch der politische Druck, sie zu entwickeln und anzuwenden, fehlt. Werden die neuen 400 000 Wohnungen am Ende doch wieder mit Erdölprodukten beklebt? Aber während rund um das Symbolthema Tempolimit immer wieder ein großes Geschrei angestimmt wird, wird die millionenfache Hinterdieselung der Neubaufassaden klaglos akzeptiert. Auch hier müsste die Regierung neue Regeln für wirklich nachhaltiges Bauen aufstellen.

Wenn der Staat eine Sache aus der Hand gibt, entsteht ein Vakuum, in dem sich Akteure ausbreiten, denen es vielleicht nicht in erster Linie um das Gemeinwohl geht, sondern um Profitmaximierung. Viele Kommunen werfen sich schon jetzt in ihrer Verzweiflung dubiosen Partnern an den Hals, die ihnen versprechen, die marode Infrastruktur zu erneuern. Die vom Strukturwandel geplagte Stadt Duisburg etwa will mithilfe des chinesischen Technologiekonzerns Huawei zur Smart City werden. Auch das ist eine Aufgabe, die ein Bauministerium entschlossener in Angriff nehmen müsste als bisher: die Mittelstädte und das Land wieder zu einem Raum zu machen, in dem man leben und arbeiten kann, etwa durch den Ausbau von schnellem Internet und genauso schnellen Regionalzügen, durch die Förderung von lokaler Produktion.

Wird es ein Bauministerium geben?
Der erste Bauminister der Bundesrepublik war ein Minister für den Wiederaufbau. Die Aufgaben heute in Zeiten der Energiewende sind ähnlich groß und grundlegend. Olaf Scholz hat in Hamburg als Bürgermeister gezeigt, wie man das Bauen zur Chefsache machen kann; es ist zu hoffen, dass er das auch auf Bundesebene tut.

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