Eine neue Disziplin: Die historische Urbanologie tritt gegen die Anonymität des globalen Dorfes an

Was "Historische Urbanologie" leisten sollte, wird vor allem deutlich an den Nicht-Orten unserer Zeit. In den Slums und Trabantenstädten ohne Gesicht. In Marzahn, Neu-Perlach, in den Schlafstädten, die wie Krebs das Land überwuchern. In Megalopolen ohne Zentrum wie Los Angeles oder Nagoya; ja selbst in unseren Innenstädten mit ihren von neonstrahlenden Schaufenstern gesäumten Fußgängerzonen, wo Betonkübel mit verdorrendem Gesträuch die wichtigsten Akzente urbanistischer Ästhetik sind. Da gewinnen Paradoxien Gestalt: Man bemerkt verlorene Zeit, nimmt verschwundene Erinnerung wahr. Die Bedeutung der Geschichte einer Stadt zeigt sich vor allem dann, wenn sie fehlt.

Diese Erfahrung machen die Menschen seit dem 19. Jahrhundert. "Die Form einer Stadt wandelt sich schneller als das Herz eines Menschen", notiert Baudelaire in den "Blumen des Bösen". Das spiegelt die tief greifenden Veränderungen, die sein Paris erfährt. Da wirft unsere Zeit ihre Schatten voraus. Wir leben in einer Epoche der Städte: Bis 2025, so der Städtebaubericht der UNO, wird die gesamte Welt ein urbanes Netzwerk bilden. Die Wellen des Neuen, Kommunikationsverdichtung, sozialer Wandel, technischer Fortschritt: In den Städten brechen sie sich zuerst.

"Historische Urbanologie" steht methodisch zwischen Geschichte und Kunstgeschichte, ohne "grenzpolizeiliche Befangenheit" (Aby Warburg). Es ist dieser umfassende Zugriff, der sie von reiner Denkmalpflege oder moderner Urbanistik unterscheidet. Sie nimmt die Vergangenheit ernst: Es geht ihr um die Rekonstruktion der Sozial- und Geistesgeschichte des Organismus Stadt; um die "Erzählung", die sich mit jeder Stadtindividualität verbindet. So ist Stadtbildforschung - Sicherung und Deutung der Überlieferung von alten Stadtdarstellungen - eine wesentliche Aufgabe des Fachs. Ein Ergebnis dieser Arbeit ist eine umfangreiche Dokumentation des "Antlitzes" deutscher Städte zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert (W. Behringer/ B. Roeck, Das Bild der Stadt in der Neuzeit 1500-1800, hg. von W. Behrigner und B. Roeck. München, C. H. Beck 1999).

3. Architekturdebatte

Große Stadt – kleines Denken, Auszug aus dem Tagesspiegel:

Die Stadtentwicklung beschäftigt die Politik angeblich mehr als jedes andere Zukunftsprojekt. Tatsächlich herrscht aber seit Jahrzehnten ein Tunnelblick. Stadtplaner Harald Bodenschatz hat aufgeschrieben, woran es hapert und was geschehen muss.

Nach dem Ende eines wenig inspirierenden Wahlkampfes kam endlich die frohe Botschaft: Stadtentwicklung ist den Politikern doch nicht egal! Ganz im Gegenteil: Wir – erst Rot-Grün, dann nun eher Rot-Schwarz – haben jetzt das zentrale Thema für Berlin gefunden: die A 100. ......

Das Thema Stadtentwicklung ist zwar in aller Munde, aber es ist unsäglich versimpelt, ja geradezu verbrannt. Es rückt mögliche programmatische Überlegungen für Berlin in den Schatten, ebenso die strategischen Projekte, die zur Umsetzung eines Stadtentwicklungsprogramms nötig wären.

Die Botschaft, das ist ein positiver Aspekt, wirft allerdings die entscheidende Frage auf: Was ist denn überhaupt die Aufgabe der öffentlichen Hand im Feld der Stadtentwicklung? Gelder von auswärts abgreifen? Das war bestes West-Berliner Talent, das auch heute noch gefragt ist. Aber wir benötigen darüber hinaus unbedingt pragmatische Visionen einer besseren Stadt, ein Stadtentwicklungsprogramm, um nicht im richtungslosen Herumstochern zu enden.

Ein Stadtentwicklungsprogramm muss die großen Aufgaben der nächsten Jahre benennen, also Prioritäten setzen. Es muss deutlich machen, was der öffentlichen Hand wichtig ist. Ein solches Programm kann und darf aber nicht am Schreibtisch entstehen, sondern muss die zivilgesellschaftlichen Akteure schon bei der Formulierung einbinden, nicht nur informieren. Das ist vielleicht die stärkste Lehre, die wir aus dem Wahlergebnis ziehen können. Der Erfolg der Piraten ist ja kein Erfolg ihres Programms, sondern Ausdruck eines wachsenden Misstrauens gegenüber der überkommenen Parteipolitik, auch der Grünen.

Brachgefallene Gebiete, Eröffnung des Flughafens Schönefeld und benachteiligte Quartiere: Berlin steht vor zahlreichen Herausforderungen.

Geflutet. Eine der Ideen der „Arbeitsgemeinschaft Rathausforum" ist es, zwischen Schloss und Fernsehturm ein Wasserbecken zu schaffen. - Simulation: Senatsverwaltung

Ein Stadtentwicklungsprogramm hat nur begrenzte Spielräume, es muss die überkommenen großen städtebaulichen Herausforderungen anpacken: die weitere Gestaltung des Zentrums, des Schaufensters der gesamten Stadtregion, insbesondere die Gestaltung der ehemaligen Altstadt im Osten des Zentrums; eine neue Sinnstiftung und Nutzung für brachgefallene Gebiete – ein Topthema Berlins, der Hauptstadt der Zwischennutzungen; die sozialverträgliche Stabilisierung benachteiligter Quartiere – sei es in der Innenstadt oder am Stadtrand, und nicht zuletzt: die erneute Ausbalancierung der Stadtregion, in der sich nach der Eröffnung des Flughafens Schönefeld und der Schließung von Tegel die Gewichte verschieben werden. All diese Herausforderungen stehen nicht für sich allein, sondern sind vielfach miteinander vernetzt, sie benötigen keine isolierten Pläne, sondern ein vernetzendes Stadtentwicklungsprogramm, wie es auch in anderen großen Metropolen erarbeitet worden ist und wird.

Das ist die große Herausforderung, die zentrale Aufgabe der öffentlichen Hand: Vernetzen, Zusammenführen, ein Stadtentwicklungsprogramm erarbeiten, das gegen den Trend der Isolierung, der Fragmentierung, des Auseinanderdriftens, der Auflösung des Zusammenhalts wirkt. Gute Ideen, Vorschläge, Projekte gibt es in unserer kreativen Stadt zuhauf. Der einzelne Investor, die einzelne Bürgerinitiative sieht, das ist verständlich, nur das eigene Grundstück, die eigene Nachbarschaft. Die öffentliche Hand muss über den Tellerrand blicken – räumlich wie zeitlich, zugunsten auch späterer Generationen.

Strategische Orte sind Stadträume von übergeordnetem Interesse. Dazu gehören diejenigen Bahnhöfe und Flughäfen, wichtigen Straßen und Plätze, Gebietszentren, Wasserlagen, Grünräume und Verkehrs-Trassen, die für das Funktionieren des Großraums Berlin entscheidend sind, aber nicht nachhaltig gestaltet sind. Hier verbietet sich eine isolierte Betrachtung von vorneherein.

Das sogenannte Rathausforum, der große „Freiraum" zwischen Alexanderplatz und dem künftigen Schloss, ist das vielleicht prominenteste Beispiel isolierter Betrachtung. Hier tobt der Streit, ob und wie stark und in welcher Form der Freiraum wieder bebaut werden soll. Ob und wie und an welche Geschichte erinnert werden soll. Hier wurden munter rekonstruierte Altstadtbauten, Wasserbecken, Ruinenparks oder Wälder gezeichnet.

Dabei wurde nur allzu oft vergessen, dass der angebliche Frei-Raum alles andere als „frei" ist wie eine grüne Wiese am Stadtrand.r hat nicht nur eine ungeheure historische Tiefe, die die archäologischen Ausgrabungen und die große Ausstellung „Berlins vergessene Mitte" erst wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt haben, sondern er muss auch verschiedene Fragmente des Zentrums miteinander vernetzen – die Reste der Altstadt östlich der Grunerstraße und westlich der Karl-Liebknecht-Straße. Und er muss einen Sinn erhalten – über den Stadttourismus und das Wohnen hinaus. Wenn wir ein paar Schritte weiter westlich gehen, wird das noch deutlicher: Hier bauen wir ein Schloss wieder auf, ohne uns vorher klargemacht zu haben, wie das nähere und weitere Umfeld gestaltet werden soll. Wie wir aus der jetzigen verfahrenen Situation mit neuem, unverkrampftem Schwung wieder herauskommen, ist völlig unklar.............

Ist Stadtentwicklungspolitik in Berlin überhaupt noch möglich?
Ist Stadtentwicklungspolitik in Berlin aber überhaupt noch möglich? Wie soll aus dem mühsamen Nebeneinander von Bezirken und Senat ein zukunftsträchtiges Stadtentwicklungsprogramm entstehen? Wie kann eine Zentralverwaltung, die nur wenig Spielraum hat, wieder handlungsfähig werden? Die jungen Fachleute von Think Berl!n haben einen bedenkenswerten Vorschlag unterbreitet: BERLIN gestalten! Hinter diesen schlichten Worten verbirgt sich eine einleuchtende Argumentation: Die Instrumente zur Gestaltung Berlins sind stumpf geworden.

Das darf aber nicht heißen: Vergessen wir die öffentliche Hand, delegieren wir die Stadtentwicklung an private Investoren und Bürgerinitiativen! Wie soll aber die inzwischen eher zahnlose Verwaltung wieder voll handlungsfähig werden? Kurzfristig ist das nicht zu erreichen. Daher bedarf es dringend einer Zwischenlösung. Think Berl!n schlägt vor, eine neuartige, kleine operative Planungsabteilung, eben „BERLIN gestalten", eine Art Urban Task Force, einzurichten, die versucht, an Orten mit besonderen Herausforderungen strategische Planungsprojekte auf den Weg zu bringen. London hat mit einer ähnlichen Abteilung gute Erfahrungen gemacht.

Berlin hat die schräge Botschaft vernommen. Aber Vorsicht: Vielleicht war alles nur eine Show, eine kleine Ablenkung, bevor der Vorhang aufgeht, und ein Stadtentwicklungsprogramm verkündet wird, ein Manifest der Nachhaltigkeit? Neue Wohnungspolitik, neue Mobilitätspolitik, Klimaschutz, attraktive Orte der Bildung, energetische Gebäudesanierung, Einbindung von Zivilgesellschaft und Wirtschaft?

Erst kamen die Bomben, dann die Stadtzerstörer

Seit 1950 gab es in Deutschland eine zweite Zerstörungswelle. Prominenteste Opfer: einige wichtige Plätze unserer Städte. Eine Bürgerinitiative kämpft jetzt gegen diese stadtplanerischen Verbrechen. Von Dankwart Guratzsch, aus DER WELT vom 11.03.13

Plätze sind die Herzkammern der Städte. In allen Jahrhunderten, in allen Kulturen, in allen Staatsformen waren und sind sie es, in denen sich das Selbstverständnis der Völker und ihrer Geschichte manifestiert. Und sie waren zumindest einst die Bühnen des städtischen Lebens. Noch heute sprechen die Frankfurter von ihrer "gut Stubb", wenn vom bekanntesten Platz ihrer Stadt die Rede ist, dem Römerberg.

Aber ein wenig verräterisch ist es doch, dass es kein "neuer", sondern ein nachgebauter alter Platz ist, der dieses Prädikat noch immer führt. Können die Plätze der Gegenwart keine "gut Stubb" mehr sein?

Tatsächlich haben sich diese Verknüpfungspunkte und Zentren städtischen Lebens ja drastisch verändert. Sie sind zu dröhnenden Kesseln eines nie abebbenden, nie endenden Verkehrs geworden. Da wirken Abbildungen aus der "guten alten Zeit" fast märchenhaft verklärt. Wie locker, wie entspannt, mit wie viel Lebensfreude, Eitelkeit und Stolz konnte man sich auf den Stadtplätzen einst ergehen!

In alten Bildern schwingt noch eine Ahnung mit von dem, was Stadtplätze seit der Antike waren und sein sollten: Bühnen bürgerlichen Lebens, Foren politischer Meinungsbildung und Artikulation, Brennpunkte der Wirtschaft, des Verkehrs und der Kultur. Und dieser Rolle korrespondierte die Architektur. In Stein und Glas, in Stahl und Metall war mit theatralischer Gebärde zum Ausdruck gebracht, wovon das flüchtige städtische Leben nur undeutliche, rasch verlöschende Spuren zeichnete.

Man zeigte nur, was man hat
Hier zeigte die Stadt, was sie zu bieten hatte. Ein Wettstreit der schönsten Fassaden, der prunkvollsten Erker, der steilsten Türme. "Man" zeigte nicht nur, was man hat, sondern auch, was man kann. Und dieses Können, so paukten es die Pennäler, war Kunst. "Kunst kommt von Können."

Die Dortmunder Architekturprofessoren Christoph Mäckler und Wolfgang Sonne stellen dieser untergegangenen Welt jetzt Bilder der Gegenwart gegenüber. In einer Ausstellung, die am 14. und 15. März im Rahmen einer Konferenz zu "Schönheit und Lebensfähigkeit der Stadt" in der Düsseldorfer Rheinterrasse Premiere feiert und anschließend auf Tournee durch Deutschland geht, fragen sie, was wir aus unseren Plätzen gemacht haben.

Und sie ziehen für den Vergleich nicht die Städte von 1900, sondern von 1950 heran. Noch immer, so zeigen sie, waren Reste jener alten Pracht und Gestaltungsfreude vorhanden. Man kann nicht für alles die Bomber alliierter Luftflotten verantwortlich machen. Wohl aber einen Wiederaufbau, der wahnhaften Vorstellungen von Modernität und Fortschritt folgte.

Seit 1950, als noch mancher Stadtraum intakt war, ist es in vielen deutschen Städten zu einer "zweiten Zerstörung" gekommen. Nicht nur im Osten, wo es die kommunistischen Machthaber darauf anlegten, dem bürgerlichen Mittelstand seine Basis zu nehmen und seine baulichen Zeugnisse zum Schrott einer untergegangenen Gesellschaftsordnung zu erklären, sondern auch im Westen, wo Argumente der ökonomischen und funktionellen Neuordnung der Städte herhalten mussten, um mit dem Bauerbe kurzen Prozess zu machen.

Bürgerinitiative gegen die Unkultur des Bauens
Mäckler und Sonne stellen die Bilder lakonisch nebeneinander und lassen sie für sich sprechen. Und was noch nie zuvor gelungen war – hier gelingt es: Führende deutsche Unternehmer stimmen als Unterstützer in diese stumme Klage ein. Als Mitverantwortlicher der Ausstellung zeichnet der frühere Aufsichtsratsvorsitzende der Deutschen Bank, Rolf E. Breuer, verantwortlich.

Eine ähnlich hochrangig besetzte Bürgerinitiative gegen die Unkultur des Bauens hat es noch nicht gegeben. Es ist ein Aufstand führender Wirtschaftsvertreter und namhafter Politiker gegen den Verfall der Ideale des Bauens, gegen Verwaltungspraktiken, Auslese- und Gutachterverfahren, Architekturauffassungen und Planungsideologien, die das Elend der Baukultur verschuldet haben."Eine Stadt soll so gebaut sein, um die Menschen sicher und zugleich glücklich zu machen", zitieren die Professoren den griechischen Philosophen Aristoteles und den großen Lehrer des Städtebaus, Camillo Sitte. Und sie fügen hinzu: "Stadträume sind Ausdruck unserer Kultur. Sie prägen unser tägliches Leben. Ihre Schönheit und Lebensfähigkeit zu fördern muss ein grundlegendes Ziel unseres gesellschaftlichen Handelns werden!"Viele Länder Europas haben das beherzigt. Sie sind heute bevorzugte Urlaubsländer der Deutschen.

Aber in Deutschland sind nur noch wenige Stadtplätze intakt. Wie konnte es zu dieser Beseitigung funktionierender Strukturen und der ästhetischen Qualität gebauter Lebens- und Wirkungszusammenhänge kommen?

Neue Städtebilder für einen "neuen Menschen"
Die Baugeschichte erlaubt eine exakte Zuordnung. Danach reicht es nicht aus, die Ursachen in den Nachkriegsjahren selbst oder im Kriegsausgang zu suchen. Vielmehr waren es Vorstellungen von einem Gesellschaftsumbau, die vor hundert Jahren formuliert wurden und mit einem alle Qualitätsbegriffe und Orientierungsmarken niederreißenden revolutionären Überschwang im Gefolge der deutschen Revolution von 1918/19 die Bahn für eine Kulturrevolution von bis dahin unbekannter Wucht brachen. An die Stelle hergebrachter alter Städtebilder sollten radikal neue treten. In ihnen sollte sich nicht nur ein neues Leben, sondern auch ein "neuer Mensch" entwickeln können.

Heute ist fast vergessen, mit welcher Unbedingtheit und Totalität dieses Neue nach Geltung und Durchsetzung verlangte. Mit dröhnenden Parolen hämmerte eine so lichtvolle Gestalt wie der Architekt Bruno Taut seinen Mitkämpfern ein: "Oh! unsere Begriffe: Raum, Heimat, Stil –! Pfui Deuwel, wie stinken die Begriffe! Zersetzt sie, löst sie auf! Nichts soll übrig bleiben!"

Mit den Forderungen verbanden sich eine religiöse Inbrunst und ein Pathos, die heute befremdlich erscheinen, die auf die ausgepowerte Kriegsgeneration des Ersten Weltkriegs aber elektrisierend wirkten. In Frankfurt am Main verlangte der Doktrinär Ernst May: "Die Stadt muss aufgelockert werden."

Noch weiter ging der große Vordenker und Magier dieses neuen Städtebaus, der Schweizer Le Corbusier, der in den alten Zentren des Lebens nur noch "eine Schädelstätte, bedeckt mit dem Schutt toter Zeiten" sah und ganze Stadtteile von Paris und Moskau abräumen wollte, um eine neue (Hochhaus-)"Stadt der Gegenwart" auf riesigen, weit auseinandergerissenen Planquadraten aufzurichten.

Radikalumbau der Städte
Entscheidend für das Verständnis dessen, was nach dem Zweiten Weltkrieg geschah, ist die große Frustration, die in den 1920er-Jahren eine ganze Architekten- und Planergeneration in Deutschland erfasste, als sie sich eingestehen musste, dass sie einen solchen Radikalumbau der Städte im Zeichen idealer Planungsziele im wirtschaftsschwachen, inflationsgebeutelten, ausgelaugten Deutschland der Zwischenkriegszeit niemals würde durchsetzen können.

Zwar wurden in Frankfurt, Berlin, Stuttgart, Dessau, Magdeburg beachtliche anti-urbane Siedlungskomplexe einer "Weißen Moderne" geschaffen. Doch so schön diese Siedlungen sind, so berechtigt es erscheint, dass sie wegen ihres Vorbild- und Pioniercharakters zum Teil das Prädikat Weltkulturerbe zuerkannt bekommen haben, so wenig sollte man vergessen, dass sie ja nur die ersten experimentellen Vorübungen zu einem Radikalumbau waren, der auf eine Veränderung der Wirklichkeit und des Lebens zielte. Den Durchbruch für diese "neue Stadt" brachte ironischerweise erst der Krieg. Denn er legte das in Schutt und Asche, was der Idealstadt im Wege stand.

Heute klingt jener berühmte Aufruf von 1947 fast ketzerisch, mit dem die Häupter der deutschen Architektenschaft einem Wiederaufbau der Städte den Kampf ansagten. "Das zerstörte Erbe darf nicht historisch rekonstruiert werden, es kann nur für neue Aufgaben in neuer Form erstehen." Das unterschrieben mit Otto Bartning, Walter Diercks, Egon Eiermann, Werner Hebebrand, Max Pechstein, Wilhelm Riphahn, Fritz Schumacher, Rudolf Schwarz, Hans Schwippert, Max Taut, Heinrich Tessenow Wortführer der architektonischen und künstlerischen Avantgarde, die höchst unterschiedlichen Lagern angehörten – in diesem Punkt stimmten sie überein.

Für die von ihnen geforderte "neue Form" aber stand Pate, was in den 20er-Jahren als Idealbild entworfen und nur in Ansätzen realisiert war. Der Radikalumbau, von dem sie geträumt hatten: Jetzt schlug seine Stunde. Und so geschah das, was heute beklagt wird, nicht aus Nachlässigkeit oder Planungsversagen, sondern in Vollstreckung von Konzepten, die fertig ausformuliert in den Schubladen lagen.

Mit Lineal und Abrissbagger
Mit dem Lineal und dem Abrissbagger ging man daran, jene Schneisen durch die Mitte der Städte zu schlagen, die bis zum Zweiten Weltkrieg durch lebendige Geschäfts- und Wohnviertel der Vorkriegszeit blockiert gewesen waren. Wo ihnen Reste der Altbebauung im Wege standen, wurden sie gesprengt – Beispiel Bonner Bahnhofsvorplatz, Hamburger Ost-West-Straße, Berliner Straße in Frankfurt/Main.

Wo der Aufwand zu groß erschien, weil die Bomben doch noch ganze Straßenzüge verschont hatten, hob man den anschwellenden Verkehr auf Stelzen und führte ihn vor den Wohnzimmerfenstern der Anwohner vorbei – die Beispiele Düsseldorf und Halle/Saale.

Historische Straßen, die einmal als Blickachsen konzipiert worden waren, wurden nun als "Straßen der Verführung" (Gropius) denunziert und für vogelfrei für jeden noch so zerstörerischen Eingriff erklärt – Beispiele finden sich in fast jeder deutschen Stadt.

Platzwände, die einmal Kulissen für ein vielfältig vernetztes Gesellschaftsleben gebildet hatten, wurden in beziehungslos nebeneinandergestellte Monolithen zerstückelt – siehe den unwirtlichen, zugigen Ernst-Reuter-Platz in Berlin, der als "Ausschnitt der Zukunftsvision vom großen freien Berlin" gefeiert wurde. Andere Plätze wurden mit maßstabslosen Riesenkreiseln überbaut, die alle Reste von Altbebauung unter sich begruben und die einstige Schauseite und den Stolz der Stadt zum Autobahnkreuz degradierten – Ernst-Thälmann-Platz Halle, Österreichischer Platz Stuttgart.

Eigenmächtige Herrscher über die Geschichte
Die hier zu sehenden Beispiele sind noch nicht einmal die drastischsten. Um sie aber "lesen" zu können, ist es unumgänglich, sie in den historischen Kontext zu stellen. Die deutsche Stadtzerstörung nach dem Krieg war und ist kein Erzeugnis einer Not- und Mangelzeit, sondern das Resultat einer gezielten Attacke auf die Restbestände tradierter Kultur und eines in Platz- und Straßenbildern vermächtnishaft niedergelegten nationalen Selbstverständnisses. Weder haben sich die Städte bis heute davon erholt, noch hat an den Lehrstühlen, in den Wettbewerbsjurys, in den Planungsetagen eine systematische Aufarbeitung, geschweige eine Umkehr begonnen.

Wer "der" Wirtschaft, "der" Politik die Schuld an dieser Entwicklung gibt, macht es sich zu leicht. Die Irrtümer sind das Erbe eines Denkens, das sich eigenmächtig zum Herren über die Geschichte erhob. Es sieht sich auch heute noch nicht zur Abdankung berufen.

Ausstellung "Plätze in Deutschland 1950 und heute", 14. und 15. März, Rheinterrasse Düsseldorf


Aufstand gegen die Verschandelung von Denkmälern
Die Potsdamer wollen keinen Mitropa-Pavillon am Schloss, in Worms gibt es Proteste gegen einen hässlichen Neubau neben dem Dom.
Bürger fordern "Umgebungsschutz" für ihre architektonischen Schätze.
Von Dankwart Guratzsch vom 19.04.13

Umgebungsschutz – was ist das? Nach dem Denkmalschutz, der sich ursprünglich des Einzelbauwerks annahm, und dem Milieuschutz, der den Schutz ganzer Bauensembles propagierte, rückt in der Kulturdebatte ein neues Schlagwort in den Fokus: der Kontext. Das grandioseste Bauwerk, das perfekteste Milieu nimmt Schaden, wenn eine hässliche Umgebungsbebauung die Sichtachsen verstellt.

Oda Scheibelhuber, Leiterin der Abteilung Raumordnung, Stadtentwicklung, Wohnen und öffentliches Baurecht im Bundesbauministerium, brachte es jetzt in Frankfurt auf den Begriff. Im Städtebau müsse der "stadträumliche Bezug" auf die großen Baudenkmale viel stärker als bisher Beachtung finden, man müsse "Pufferzonen" einhalten und "Sichtachsen" respektieren, verlangte Scheibelhuber in einer Veranstaltung über "integrierte Stadtentwicklungsstrategien" zugunsten der 37 deutschen Welterbestätten der Unesco.

Das kann nicht nur für ausgewiesene Welterbestätten gelten. Zwei heftig diskutierte neue Problemfälle, die sofort zur Gründung neuer Bürgerinitiativen geführt haben, beweisen: Es ist ein Thema, das längst bei den Bürgern angekommen ist.

In Dresden ging es um die Waldschlösschenbrücke
In Worms will die Domgemeinde dicht neben dem durch die Nibelungensage zu Weltruhm gelangten gotischen Dom ein Gemeindezentrum errichten. In Potsdam wollen sich die Landtagsabgeordneten just in der Sichtachse des im Wiederaufbau befindlichen Stadtschlosses ein Bistro bauen.

Die Streitfälle erinnern an Affären, die schon in Dresden (bei der Waldschlösschenbrücke) und in Heidelberg (bei der Planung eines neuen Kongresszentrums) breite Bürgerbewegungen bis hin zu Bürgerentscheiden ausgelöst hatten. Und immer war es dabei weniger um den Bau selbst, als um seine Wirkung auf die Umgebung, auf den "Kontext" gegangen.

Den Kölnern ist das Thema seit dem Streit um neue Hochhäuser am Deutzer Ufer vertraut, den Hamburgern seit der Errichtung von Büroklötzen in der Sichtachse zu St. Michaelis. Karl Weber von den Staatlichen Schlössern und Gärten Hessen brachte die Problematik auf der Frankfurter Veranstaltung auf den Punkt: "Das kulturelle Erbe fängt nur zusammen mit dem Kontext an zu sprechen."

In Worms entlud sich der Volkszorn vor dem Dompropst
Und dieser Kontext wird, so beobachten Kulturkritiker, für die Bürger offenbar immer wichtiger. In Worms genauso wie in Potsdam schlägt sich der Unmut in wütenden Leserbriefen nieder, die ganze Seiten der Lokalpresse füllen.

Auf einer eilig einberufenen Bürgerversammlung mit 600 Teilnehmern entlud sich der Volkszorn in Worms auf eine Weise, dass Propst Engelbert Prieß sofort ein "neues Nachdenken" versprach. "Ich bin Pfarrer, das ist das erste Mal, dass ich so was erlebe," gesteht der Kirchenmann. In Potsdam wurde eine Bürgerinitiative gegründet, denn das geplante störende Bauwerk verbarrikadiert nicht nur die Sichtbeziehung zu Schloss und Wasserlandschaft, sondern verhindert auch, dass der barocke Lustgarten in neuer Form entsteht.

Entscheidend für die allgemeine Erregung ist, dass sich die Bürger überfahren fühlen. Aus einem Architektenwettbewerb in Worms mit durchaus originellen und achtbaren Beiträgen kürte die Jury unter dem Darmstädter Architekturprofessor Eisele eine Flachdachkiste des Berliner Architekten Jörg Springer zum Siegerentwurf (auffälligerweise ebenfalls Architekturprofessor an der Darmstädter TU). Der fatale Effekt: Der Dom wird nach unten abgeschnitten, stilistisch konterkariert und seiner Monumentalität beraubt.

Wettbewerbsjurys wollen triviale Funktionalität
Im Sinne herrschender Auffassungen hatten die Juroren damit scheinbar genau das Richtige gemacht. Alle Satteldachentwürfe wurden ausgeschieden, desgleichen alles, was nach zu viel "Originalität" aussah. Übrig blieb die Verbeugung vor der trivialen Funktionalität und der unmissverständlichen Abgrenzung von der Historie. Dass das heute zu wenig sein könnte, ist den Preisrichtern nicht im Traume eingefallen. Sie waren sich ihrer Sache so sicher, dass sie sogar einstimmig votierten.

Die einzig herausragenden Lösungen blieben dabei auf der Strecke. Zum Beispiel das Satteldachhaus der Arge Helmut Schembs/Culturebridge (Worms) mit den großen schaufensterartigen Glasflächen in der Fassade, das ein Angebot zur Transparenz für die mit schweren Imageproblemen ringende Kirche hätte sein können. Oder der – immerhin mit einer Anerkennung bedachte – hohe spitze Gottesdienstraum der Österreicher Dietrich und Untertrifaller (Innsbruck/Wien), der, nur durch einen Schlitz im First belichtet, den Blick wie ein gotischer Sakralraum nach oben zieht.

Oder der mit einem ornamentierten Keramiküberwurf wie mit einem Teppich bekleidete lang gestreckte Baukörper der Schweizer Manuel Herz und Fabian Bartel (Basel). Oder erst recht der außergewöhnlichste, auch intellektuell anspruchsvollste Entwurf von Wandel Höfer Lorch (Saarbrücken), die schon mit ihren Synagogen in Dresden und München überregional Aufsehen erregt haben. In Worms greifen sie das Motiv der künstlichen Ruine auf und knüpfen mit einer romanischen Bogenkonstruktion, in der sich ein moderner kastenförmiger Bau verbirgt, an Motive des dreistöckigen Kreuzgangs an.

Banale Kistenarithmetik, verheerende Eindrücke
Gewiss, alle diese Beiträge haben auch unübersehbare Schwächen, die aber die Jury auch den preisgekrönten Kisten ankreidet. Dass solche Mängel, beispielsweise die willkürliche Verschachtelung des Baukörpers der Wormser Arge, die schiefe Abschrägung des Satteldaches und des Lichtdaches der Österreicher, das unentschiedene Dach und die liegenden Fenster und Basisöffnungen der Schweizer oder die nicht sonderlich inspirierte Innenraumgestaltung im Entwurf der Saarbrücker, in der Überarbeitungsphase einer Korrektur anheimgestellt werden, ist völlig normal. In Worms hielt man nicht einmal das für erwägenswert.

Was hingegen nicht mehr korrigierbar erscheint, ist der verheerende Eindruck, den die banale Kistenarithmetik auf die nachvollziehbare Absicht der Domgemeinde wirft, mit dem Neubau in historischer Manier wieder dicht an den Dom heranzurücken. Sie dürfte durch eine Architektur, die nichts mit Geschichte anzufangen weiß, sondern sich mit kontradiktorischer Schärfe von ihr absetzt, für lange diskreditiert sein. Die Wormser Bürgerinitiative jedenfalls, die inzwischen 10.000 Unterschriften gegen das Projekt gesammelt hat, verlangt jetzt kategorisch: "Der Dom darf auf keinen Fall weiter zugebaut werden."

Ganz ähnlich verheddert hat sich der Potsdamer Landtag mit seiner – wie schon gespottet wird – "Mitropa am Karpfenteich" im königlichen Lustgarten: Der ohne Umschweife zum Bauvorschlag kreierte Entwurf von Karl-Heinz Winkens, dem Potsdamer Architekturprofessor, hat das Zeug, jeden Gedanken an die Wiederherstellung der barocken Gartenanlage und ihres berühmten Neptunbeckens schon im Ansatz zu torpedieren.

Die Selbstherrlichkeit der Politiker ist grenzenlos
Dass der Flächennutzungsplan dort eine öffentliche Grünfläche vorsieht, dass für dasselbe Grundstück ein zur Ausführung bestimmter prämierter Gartenentwurf von Dietz/Joppien vorliegt und dass Sponsoren für die Ausführung 1,6 Millionen Euro bereitgestellt haben, das alles scheint nicht ins Gewicht zu fallen.

Jetzt hat sich ein Proteststurm erhoben, der dem wachen Geist der Potsdamer, der sich Meriten schon bei der Durchsetzung des Schlossbaus gegen massive politische Widerstände erworben hat, alle Ehre macht. Was Schinkel "Resignation des Architekten" nannte und was wir heute mit Demut bezeichnen, ist einer Selbstherrlichkeit der Entscheidungsträger in Gestaltungsbelangen gewichen, die dem Auftrag der "Demokratie als Bauherr" Hohn spricht.

50 Jahre nach Adolf Arndt berühmtem Essay scheint es, dass es zwischen dem Respekt vor dem Souverän, dem Bürger, und dem Respekt vor dem Monument, mit dem er sich identifiziert, eine heimliche Korrelation gibt: Er ist den Amtsträgern abhanden gekommen.

Bürgerbeteiligung bei der Gestaltung der Historischen Mitte
Senat verweigert Umsetzung pragmatischer, kurzfristig umsetzbarer Vorschläge für eine gute Bürgerbeteiligung bei Stadtentwicklungsprojekten, von Gerhard Hoya vom 24. April 2013

Seit seinem Amtsantritt verkündete der Bausenator Michael Müller wiederholt in öffentlichen Ansprachen die Notwendigkeit von Bürgerbeteiligung in Entscheidungsprozessen bei Bauprojekten. Bereits im September 2012 unterbreitete die Gesellschaft Historisches Berlin e.V. Vorschläge für eine frühzeitige, gute Bürgerbeteiligung. Eine Öffentlichkeitsbeteiligung soll helfen, Konflikte bereits im Frühstadium auszuräumen und so verhärtete Fronten zu vermeiden.

In einem persönlichen Gespräch am 06. September 2012 sagte Herr Müller dem Vorsitzenden der GHB, Herrn Gerhard Hoya, eine Prüfung und Stellungnahme zu den Vorschlägen zu. Leider ist bis heute nichts geschehen.

Stattdessen lässt die Senatsbaudirektorin Frau Lüscher in den Randbereichen der Historischen Mitte Bauvorhaben bezogene Bebauungspläne erarbeiten. Kleinteilige Platzsanierungen um den Fernsehturm und um die Marienkirche sollen die trostlose Brache „Rathausforum" urbanisieren. Die Summe dieser einzelnen Maßnahmen bleibt Stückwerk. Mit der Erarbeitung eines Masterplanes ist umgehend zu beginnen. In die Entscheidungsprozesse sind die Bürger mit einzubeziehen. Die vom Senat geplanten Stadtforen zur Erarbeitung eines Stadtentwicklungskonzeptes Berlin 2030 sind nicht geeignet, ein zeitnahes Konzept für die Entwicklung der Historischen Mitte aufzustellen.

Stadtentwicklungskonzept Berlin 2030
Stadtforum 2030, aus Pressebox des Senates vom 24.04.2013

Das Stadtforum hat sich in der Vergangenheit als Ort der politischen und fachlichen Debatte bewährt. Nach der Wiedervereinigung Berlins wurde das Stadtforum als öffentliche Diskussionsplattform zu drängenden Fragen der Stadtentwicklung ins Leben gerufen. Waren die Themen und Diskussionen in den Anfangsjahren von der Wachstumseuphorie der Nachwendezeit bestimmt, stand in den letzten Jahren eine Auseinandersetzung um Entwicklungschancen Berlins im Mittelpunkt. Bis Anfang 2014 richtet das Stadtforum unter dem Titel "Stadtforum 2030" den Fokus auf das Stadtentwicklungskonzept Berlin 2030.

Das Stadtforum 2030 informiert und bindet Partnerinnen und Partner aus Forschung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft aktiv in den Arbeitsprozess ein. Gleichzeitig ist das Stadtforum 2030 auch Ort für einen politischen Diskurs zu übergreifenden Themen der Berliner Stadtentwicklungspolitik. Die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt lädt alle interessierten Berlinerinnen und Berliner ein, ihren Beitrag zu einem gemeinsam getragenen Stadtentwicklungskonzept einzubringen.

Ergänzt wird das Stadtforum 2030 durch begleitende Werkstätten, in denen die Themen des StEK 2030 mit einer geladenen Fachöffentlichkeit diskutiert werden. Alle Termine, Themen und Inhalte sowie Dokumentationen, Vorträge und Arbeitsergebnisse aus den Stadtforen 2030 sowie den begleitenden Werkstätten finden Sie auf diesen Seiten.

"Nicht ganz Berlin kann am Prenzlberg wohnen"
Die Hauptstadt braucht einen Plan, meint der Berliner Senator für Stadtentwicklung. Eine Vorstellung dafür hat er nicht. Die traurige Wahrheit ist, dass die Planer 20 Jahre alten Idealen nacheifern.
Von Dankwart Guratzsch, 26.04.13

Wo steht Berlin? Wohin geht Berlin?
Das ist die Frage, mit der man in der deutschen Hauptstadt derzeit Säle füllt. Zum Beispiel den Festsaal des Roten Rathauses, in den Stadtentwicklungssenator Michael Müller (SPD) am Mittwochabend mit genau dieser Fragestellung die Bürger seiner Stadt geladen hatte. Der große Raum fasste die Menschen kaum. Sie füllten die Sitzreihen, standen an den Wänden, saßen auf dem blanken Parkett. Die Situation ähnelte der auf dem Wohnungsmarkt in den Berliner Kiezen: riesige Nachfrage, Verdrängungswettbewerb.

"Berlin braucht einen Plan", dozierte der Senator, aber eine Vorstellung hat er dafür nicht. "Ich hoffe", so Müller, "dass ein Leitbild für die Stadt aus der Diskussion entsteht. Worauf sollen wir den Akzent legen? Auf Kultur? Auf die Stadt der Vielfalt? Auf die prosperierende Wirtschaftsmetropole?" Zur Ideenfindung will der Senator das "Stadtforum" wiederbeleben, eine Erfindung seines Vor-Vorgängers Volker Hassemer aus der Aufbruchszeit nach 1990. Als eine Art "Ständeparlament" aller gesellschaftlichen Gruppen hatte es Jahrhundertziele für die Metropolenentwicklung Berlins erarbeitet und die Grundlagen für den Wiederaufbau der trümmerhaften, durch die Mauer zerrissenen Innenstadt im gesellschaftlichen Konsens gelegt.

Noch längst sind nicht alle damals formulierten Ziele und Aufgabenstellungen dieses ungeheuer erfolgreichen Programms abgearbeitet. Doch Müller und seine Senatsbaudirektorin Regula Lüscher wollen nicht einfach daran weiterarbeiten, sondern alles noch einmal neu auf den Prüfstand stellen. Dazu werden "Werkstattgespräche" mit Experten – diesmal freilich hinter verschlossenen Türen – sowie fünf öffentliche Veranstaltungen für die Berliner Bevölkerung anberaumt. 2014 soll Bilanz gezogen werden. Es sieht auf fatale Weise nach einer Alibiveranstaltung für ein Jahr Nichtstun aus, denn auch ohne die hochmögenden Expertenrunden wissen die Berliner offensichtlich sehr wohl, was für eine Stadt sie wollen.

Man vertagt sich auf ein Jahr
Das "Stadtentwicklungskonzept für 2030" jedoch hält ihnen entgegen: "Es kann nicht allen Haushalten garantiert werden, dass sie dort wohnen können, wo sie wollen." Oder, noch konkreter: "Es kann nicht ganz Berlin im Prenzlauer Berg wohnen." Aber muss man nicht vielmehr fragen, warum die alten Kieze von Kreuzberg bis Wedding und neuerdings Pankow so unglaublich beliebt sind, während andernorts in Berlin Wohnungen leer stehen? Kann man solche Kieze nicht auch heute bauen?

Vielleicht nicht in Stuck und Marmor, aber in einer Struktur und in einem Anspruch, der sich mit diesen heute weit über Berlin hinaus als Modellstadtteile für die Revitalisierung der europäischen Stadt gehandelten Beispielen vergleichen lässt? Riesige Bauareale im Zentrum Berlins liegen brach, für einige sind bereits Bebauungspläne aufgestellt, man könnte noch heute anfangen zu bauen. Aber man vertagt sich auf ein Jahr.

Die Wahrheit ist, dass Planer, die vor zwanzig Jahren studiert haben, heute noch umsetzen wollen, was sie damals gelernt haben: Charta von Athen, Trennung der städtischen Funktionen, verkehrsgerechte, aufgelockerte Stadt der weiten Wege und des Ressourcenraubbaus. Weil sie darin noch immer Ideale eines zukunftsweisenden Städtebaus realisiert sieht, will Regula Lüscher die nächste Internationale Bauausstellung (IBA) in die "Draußenstadt" (den Stadtrand) verlegen, und auch Müller bekannte sich nun öffentlich noch einmal ausdrücklich dazu.

Wer zieht nach Berlin, weil er im Plattenbau wohnen will?
Es ist das alte Evangelium der "soz. Stadt", wie es der große Vordenker Ernst May in Frankfurt in den 1920er-Jahren gepredigt hatte, das Denken in Kategorien der Wohnraumversorgung und des sozialen Wohnungsbaus, der ja nichts anderes als ein Wohnungsdiktat war. Die Bürger mussten so hausen, wie es ihnen eine allgewaltige Sozialplanung vorgab und wie es die kommunale Wohnungswirtschaft ihnen in Gestalt von Wohnsilos und Plattenbaugebirgen vor die Nase setzte.

Aber wer von den 40.000 Zuzüglern jährlich zieht nach Berlin, weil er in einem Plattenbau am Stadtrand wohnen will? Wenn Berlin international punkten will, wie es die einzige Sinngebung einer IBA wäre, muss es endlich die Metropolenplanung aus der Hassemer-Ära vollenden, die alle Prinzipien der "Leipzig-Charta der nachhaltigen europäischen Stadt" vorweggenommen hat. Sonst wird aus der Internationalen Bau- eine Internationale Blamage-Ausstellung.